Die B 9 politisch Warten auf früher

Bonn · Das Bonner Bundesbüdchen versorgte schon zu Hauptstadtzeiten die großen Staatsmänner mit Presse und Zigaretten. Mit dem Bau des World Conference Center Bonn (WCCB) musste der ovalen Betonklotz vorübergehend einer kleinen Holzhütte weichen.

Jürgen Rausch vor seinem „Bundesbüdchen“, bevor es 2006 dem WCCB weichen musste.

Jürgen Rausch vor seinem „Bundesbüdchen“, bevor es 2006 dem WCCB weichen musste.

Foto: Roland Friese

Die kleine Holzhütte passt überhaupt nicht ins Bild. Eingepfercht zwischen einem modernen Hotelkomplex, dem ehemaligen Kanzleramt und dem Rhein wirkt der Imbiss trist und verloren. Die Terrasse ist leer, keinen vorbeiziehenden Spaziergänger lockt das Tagesangebot an - „hausgemachter, bayrischer Schweinsbraten mit Kartoffelknödeln“ für sieben Euro. Im Innenraum des Imbisses staut sich die warme Sommerluft, es riecht nach Fett und Spülmittel. Die Kaffeemaschine rattert und dampft. „Geld drucken kann sie aber leider nicht“, sagt der Mann hinter dem Tresen. Dabei könnte er es so gut gebrauchen.

Jürgen Rausch hat bessere Zeiten erlebt. Der Imbiss ist nur ein vorübergehender Arbeitsplatz, er will so schnell wie möglich zurück in seinen ovalen Betonklotz. Auch nicht schön, aber geschichtsträchtig. Rausch gehört das Bonner Bundesbüdchen, in Zeiten der Bonner Republik versorgte er die großen Staatsmänner mit Zeitungen und Zigaretten, mit Gummibärchen und Bockwürsten. Als die Regierung Bonn verließ, blieben Rausch und sein Kiosk. Bis das World Conference Center Bonn (WCCB) samt großem Tagungshotel gebaut werden sollte. Das Bundesbüdchen musste weichen, zwei Jahre sollte es in einer Spedition gelagert werden.

Seitdem schwelgt Rausch in seinen Erinnerungen - beispielsweise an die von 1985: Kurz nachdem er den Kiosk übernommen hatte, kam der SPD-Politiker Herbert Wehner zu ihm. Im Plenarsaal sprach gerade Franz Josef Strauß, mit dem sich Wehner oft hitzige Rededuelle geliefert hat. Es war offensichtlich, dass beide keine Freunde waren, Wehner verglich den CSU-Chef einmal gar mit Joseph Goebbels. Der SPD-Mann ging zu Rausch, im Radio lief die Strauß-Rede. „Da spricht gerade einer der intelligentesten Menschen im Bundestag“, sagte Wehner. „Hören Sie sich das an!“ Das imponierte auch Rausch.

Nach zwei Jahren in einer Bornheimer Spedition sollte das Bundesbüdchen dann wieder neu an alter Stelle aufgebaut werden. Darauf wartet der 67-Jährige nun schon seit acht Jahren. „Ich habe wirklich gedacht, dass es nicht so lange dauert. Acht Jahre sind für mich die Hölle, einfach bedrückend.“ Heute schließt er den Imbiss, der eigentlich in der Zeit bis zum Wiederaufbau des Kiosks sein Einkommen sichern sollte, schon um 14 Uhr. Um diese Uhrzeit ist am Ende der Sackgasse nichts mehr los. Das Hotel ist noch nicht eröffnet, nur wenige Arbeiter sind auf der Baustelle zu finden. Wenigstens sind überhaupt wieder Arbeiter da, lange Zeit ruhte die Baustelle.

Der Baustopp am WCCB hat Rausch den Rest gegeben

Bonn war auf einem guten Weg, den Umzug der Bundesregierung nach Berlin zu verkraften. Neue Arbeitsplätze wurden geschaffen, die Vereinten Nationen in die Bundesstadt geholt. Das WCCB sollte das zentrale Puzzlestück des Wandels sein, dafür fehlte aber Geld. Ein Investor wurde gesucht, der falsche ausgewählt. Der Koreaner Man-Ki Kim versprach den Kommunalpolitikern viel Geld, mittlerweile sitzt er in Haft. Es ist aktuell wohl der kriminellste öffentliche Bauskandal Deutschlands. Jürgen Rausch hat alles aus nächster Nähe miterlebt – wie schon früher, als direkt neben seinem Kiosk die große Politik gemacht wurde.

Eine kleine Mappe hat er griffbereit, alte Fotos und Zeitungsartikel sind darin gesammelt. Es zeigt die Geschichte des Bundesbüdchens, auch die Geschichte Rauschs. 1984 übernahm er den Kiosk von seiner Mutter. Viele Bilder hat er anderen mitgegeben, nur wenige Fotos sind ihm geblieben. „Es ist beschämend, nur noch so wenige Bilder zu haben“, sagt er. Aber die gebliebenen lassen ihn lächeln. Vor allem ein Schwarz-Weiß-Foto: eine junge Frau mit Zeitungen vor einer Betonwand. „Das ist mein Muttchen, vor über einem halben Jahrhundert.“ Er ist stolz auf seine Mutter, dankbar für ihre Arbeit damals.

Der Imbiss ist geschlossen, die Kasse zu. Plötzlich taucht doch noch ein Bauarbeiter auf. „Ich wollte eigentlich noch ein Wasser“, sagt der Mann im Blaumann. „Hol ich dir, bezahlst du einfach morgen.“ Jürgen Rausch vertraut seinen wenigen Kunden. Früher haben seine Kunden ihm auch vertraut, ihm die Zusammenhänge im Bundeskanzleramt erklärt. Er profiliert sich nicht mit seinen Begegnungen mit der Politikprominenz, er verrät keine Geheimnisse. Das hat er nie getan. Was er erzählen kann, erzählt er aber gerne und oft.

Wie beispielsweise vom 11. März 1999 - der Tag, an dem Oskar Lafontaine als Bundesfinanzminister zurücktrat. Der ehemalige Außenminister Klaus Kinkel rief ihm von der Straße gegenüber zu, dass Rausch keinen Finanzminister mehr habe. „Verdammt nochmal, lasst mich doch damit in Ruhe. Das ist euer Bier“, hat er gedacht. Zurückgerufen hat er trocken: „Sie auch nicht“. Auch Joschka Fischer war oft Gast am Bundesbüdchen, kaufte zeitweise bis zu 17 Zeitungen und Zeitschriften am Tag. Vom Steinewerfer zum Vizekanzler – für Rausch eine respektable Leistung. „Der war ein Taxifahrer, ein Schluffi“, sagt Rausch und kann sich ein Lachen nicht verkneifen.

Ein Alphadackel im Regierungsviertel

Weniger Respekt vor Fischer hatte dagegen Rauschs Dackel. Ein gut erzogenes Alphahündchen sei er gewesen, hätte nie irgendetwas gemacht. Nur ein Problem hatte der Dackel: „Er hat sich eingebildet, das Regierungsviertel sei sein Revier“, sagt Rausch. Und in diesem Revier mochte er keine Jogger. Fischer aber lief gerne und viel. „Wau! Wau! Wau!“, äfft Rausch seinen Dackel nach. Hinter Fischer hetzte der Kläffer her, der zeigte sich aber unbeeindruckt. Gebissen hat er ihn nicht, und so kam Fischer auch noch danach zu Rausch, um seine Zeitungen einzukaufen. Solch kantige Typen vermisst er heute. Das Gefühl, dass die Politik nicht mehr so einfach und direkt funktioniere wie noch zu Bonner Zeiten, begleitet ihn und holt ihn aus seinen Erinnerungen zurück.

Rauschs Blick schweift vom Imbiss aus wieder nach draußen. Nur knapp 50 Meter entfernt liegt der Ort, an dem sein Bundesbüdchen einmal stand. Jetzt ist dort eine kleine Baugrube direkt vor dem modernen Hotel. Der neue Investor habe sich bereit erklärt, das Bundesbüdchen wieder aufzustellen. Wohl aber nicht an alter Stelle, sondern dort, wo jetzt die Holzhütte steht. Ein neuer Förderverein soll Rausch finanziell beim Wiederaufbau unterstützen, gegründet ist dieser aber noch nicht. Wie lange der 67-Jährige noch auf seinen Kiosk warten muss, ist ungewiss. Vielleicht ja noch in diesem Jahr, hofft Rausch. Aber auf den einen oder anderen Monat mehr wird es nach acht Jahren auch nicht mehr ankommen. So lange wird Jürgen Rausch weiter warten: auf Kunden, seinen Betonklotz sowie den Glanz und Charme von früher. Darauf, dass die alte Zeit noch einmal zurückkehrt.

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