Nachzug von Flüchtlingsfamilien Warten auf Mutter, Schwester und Bruder

Bonn · Das Asylpaket II erschwert Flüchtlingen seit Anfang des Jahres, die Daheimgebliebenen nachzuholen. In Bonn und dem Rhein-Sieg-Kreis wird diese Regelung allerdings noch nicht praktiziert.

Der 14 Jahre alte Thabet und sein 24 Jahre alter Bruder Thaer haben einen weiten Weg hinter sich: Vor sieben Monaten sind die Syrer, deren Nachname zu ihrem Schutz ungenannt bleiben soll, vor dem Bürgerkrieg aus Damaskus geflüchtet. Nach einer abenteuerlichen Reise über den Balkan sind beide inzwischen in einer Flüchtlingsunterkunft der Gemeinde Wachtberg untergekommen, im Hotel Wiesenau in Pech. Dort fühlen sie sich zwar wohl, trotzdem bleibt ein inniger Wunsch: Sie wollen ihre Familie, die Mutter, den sechsjährigen Bruder und die 13-jährige Schwester nach Deutschland holen. Ob und wann eine Familienzusammenführung klappen könnte? Thaer weiß es nicht, weil er noch darauf wartet, beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) einen Asylantrag stellen zu können. Erst nach einer Anerkennung lässt sich über einen Familiennachzug nachdenken.

Große Hoffnungen hätten sich die beiden syrischen Brüder eigentlich nicht machen dürfen. Denn Anfang des Jahres hatte die Bundesregierung mit der Verabschiedung des Asylpaketes II die Nachzugsregelung speziell mit Blick auf große Flüchtlingsgruppen wie die aus Syrien verschärft. Doch nach Recherchen des GA bei den zuständigen Ausländerämtern des Rhein-Sieg-Kreises in Siegburg und der Stadt Bonn werden diese Regelungen nicht beziehungsweise noch nicht praktiziert. Gut für das private Glück vieler Flüchtlinge, aber eine Herausforderung für Städte und Kommunen in der Region. Denn die müssen mit einer weiteren, möglicherweise großen Zahl an Zuzüglern rechnen.

Die Ambivalenz des Themas Familienzusammenführung ist der Politik seit Langem klar: Dem humanitären, zutiefst verständlichen Wunsch von Flüchtlingen, mit ihren Familien zusammenzuleben, steht dann aber die Aufgabe von Städten und Gemeinden gegenüber, die Nachzügler auch angemessen unterzubringen. Eine Aufgabe, die schon jener eine Million Flüchtlinge schwe fällt, die bis Ende des Jahres nach Deutschland gekommen sind. Zur Erinnerung: Rund 12.000 Flüchtlinge leben bereits in Bonn und dem Rhein-Sieg-Kreis.

Familiennachzug für bestimme Flüchtlingsgruppen ausgesetzt

Gerade um die öffentliche Hand nicht zu überfordern, hatte die Koalition Ende Februar das sogenannte Asylpaket II beschlossen. Ein Kernpunkt: Für eine bestimmte Flüchtlingsgruppe soll der Familiennachzug für zwei Jahre ausgesetzt werden. Konkret geht es um Menschen, denen das Bamf nur einen „subsidiären Schutzstatus“ zugestanden hat. Damit kann sich diese Flüchtlingsgruppe ausdrücklich nicht auf das Grundrecht auf Asyl berufen und genießt auch keinen Schutzstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Zuvor hatten seit November 2014 nach Vorgabe der Bundesregierung die Asylentscheider beim Bamf Menschen aus Syrien pauschal den besseren Flüchtlingsstatus zuerkannt, schließlich stauten sich die Anträge.

Angesichts der Diskussion um die ab Herbst 2015 stark gestiegenen Flüchtlingszahlen sind die Asylentscheider auf Anweisung des Bundesinnenministers seit Januar wieder zu einer detaillierteren mündlichen Anhörung und Einzelfallprüfung zurückgekehrt. Daraus können sich nun unterschiedliche Formen eines Schutzstatus' ergeben wie Asyl, Flüchtlingsschutz, subsidiärer Schutz, Abschiebehindernisse oder Sonderprogramme. Es schien politisch gewollt, dass vor allem Syrer zunächst nur subsidiär geschützt sein sollen.

Doch auf Nachfrage des General-Anzeigers bei den Ausländerämtern in der Region sieht die Wirklichkeit anders aus: „Wir haben seit der Verabschiedung des Asylpaketes II eigentlich täglich damit gerechnet, dass wir diesbezüglich vom Bamf verstärkt subsidiäre Schutzentscheide bekommen, aber das ist nicht der Fall“, erklärt Nicole Loheider, Abteilungsleiterin für Ausländerangelegenheiten bei der Siegburger Kreisverwaltung. Syrern also werde weiterhin fast durchgängig der rechtlich höherwertige Schutzstatus eines „Flüchtlings nach der Genfer Flüchtlingskonvention“ zuerkannt, ergänzt Loheiders Chefin Gabriele Neugebauer, Leiterin des Rechts- und Ordnungsamtes der Kreisverwaltung.

Auch das Bonner Ausländeramt kann laut Stadtsprecherin Monika Hörig bestätigen, „dass das Bamf syrischen Asylantragstellern in den weitaus meisten Fällen Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention zuspricht“. Die rechtliche Konsequenz ist: Gemäß § 29 Absatz 2 des Aufenthaltsgesetzes kann der Flüchtling im Zuge des Familiennachzugs „innerhalb von drei Monaten nach unanfechtbarer Anerkennung als Asylberechtigter oder unanfechtbarer Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft“ einen Antrag auf Familiennachzug stellen. In der Praxis heißt das: Nachreisen nach Deutschland über eine Visumserteilung durch die deutsche Botschaft dürfen auf eigene Kosten der Ehegatte wie auch alle minderjährigen Kinder. Bei unbegleitet reisenden Jugendlichen beide Elternteile und alle minderjährigen Geschwister.

Positiver Bescheid für rund 60 Prozent der Antragssteller

Was das in Zahlen bedeutet, hat man in der Kreisverwaltung versucht, mit einer Formel hochzurechnen. Ausgehend von derzeit allein über 7000 Flüchtlingen im Kreis (ohne Troisdorf) rechnet man damit, dass rund 60 Prozent der Menschen einen positiven Bescheid und eine Anerkennung als Flüchtling bekommen könnten. „Wir halten es dann für möglich, dass wiederum die Hälfte von dieser Gruppe einen Antrag auf Familienzusammenführung stellt“, so Nicole Loheider. Zu Zahlen bereits gestellter Anträge kann sie noch nichts sagen: „Die Verfahren beginnen so langsam erst in unserem Servicecenter in der Siegburger Kreisverwaltung anzulaufen, da das Bamf noch viele Altanträge zur Entscheidung hat.“

Auch im Bonner Stadthaus macht man sich bereits Gedanken. „Im Februar hat das Ausländeramt versucht, mittels einer Datenbankabfrage das Thema zumindest einzugrenzen und die Entwicklung im zurückliegenden Jahr zu ermitteln“, erklärt Stadtsprecherin Monika Hörig. Demnach seien zwischen dem 1. Januar 2015 und dem 10. Februar 2016 aber nur 123 Aufenthaltserlaubnisse zum Zwecke des Ehegatten- oder Kindernachzugs für insgesamt 1097 syrische Flüchtlinge erteilt worden, so Hörig weiter. Dabei habe es sich aber um Aufenthaltserlaubnisse zu allen Schutzarten gehandelt.

Wie diese relativ geringe Zahl zu erklären ist? Möglicherweise könnten laut Hörig die Familienangehörigen nach der Einreise selbst Asylanträge gestellt haben, „um einen besseren Aufenthaltsstatus zu erlangen“. Möglicherweise seien aber Familienangehörige auch deshalb noch nicht eingereist, „weil die Wartezeiten in den deutschen Auslandsvertretungen für die Beantragung des entsprechenden Visums sehr lang sind“. Bis zu einem Jahr müssten sich die Menschen gedulden. Prognosen seien schwer zu wagen. Das hat laut Monika Hörig damit zu tun, „dass bei den Visaverfahren in Zusammenhang mit syrischen Flüchtlingen die Bonner Ausländerbehörde nicht beteiligt ist“.

Ob und wann der Wunsch der Brüder Thaer und Thabet auf Familienzusammenführung in Erfüllung geht, scheint ungewiss. Nach Auskunft des Bamf wurde das Anerkennungsverfahren jetzt so umgestellt, dass Syrern nicht mehr pauschal der Flüchtlingsstatus zuerkannt wird (siehe Artikel unten). Ob das nun auch in der Praxis dazu führen wird, dass etwa Syrern vermehrt ein subsidiärer Schutzstatus zuerkannt wird, bleibt abzuwarten. Für Thaer wäre das schlimm: „Unser Haus ist zerstört und meine Familie muss ohne Arbeit mitten zwischen den Kriegsfronten in Damaskus leben“, sagt er verzweifelt. Vor allem leide sein erst 14-jähriger Bruder Thabet unter der Trennung. Aber auch Thaer fehlt die Familie. Wie zum Beweis zückt er ein Passbild des sechsjährigen Bruders Mohammed, das er immer bei sich trägt.

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