Jahrestag des Kriegsbeginns in der Ukraine Wie der Krieg das Leben in Bonn verändert hat
Bonn · In der Kreuzkirche haben am Donnerstagabend Menschen für Frieden gebetet. Nicht nur rund um den Jahrestag hat der russische Angriff auf das Nachbarland hierzulande Spuren hinterlassen. Ein Überblick.
Die Anstrengung ist Ernst Joist deutlich anzusehen. „Man ist ja nicht mehr der Jüngste“, sagt der 91-Jährige und nimmt langsam Stufe für Stufe hinein in die Kreuzkirche. „Aber es ist wichtig, dass ich hier bin.“ Gemeinsam mit seinem Enkel Jonas ist er zum ökumenischen Abendgebet für den Frieden gekommen. „Meine Generation kennt die Schrecken des Krieges ganz genau“, erzählt der Senior. „Ich erinnere mich noch immer an die Angst und die Verzweiflung, wenn wir im Keller oder in einem Bunker saßen und um uns herum die Bomben einschlugen.“ Diese Erinnerung an seine Kindheit während des Zweiten Weltkrieges in Bonn sind immer noch allgegenwärtig. „Wir müssen alle gemeinsam dafür einstehen, dass Menschen so etwas nie wieder erleben müssen“, sagt er.
Vor einem Jahr hätte Marcel Stupp nicht gedacht, wie sehr der Konflikt auch sein Leben verändert. „Wir mussten schmerzhaft lernen, wie abhängig wir von anderen Staaten sind. Es macht mir Angst, wenn wir uns ernsthaft Sorgen um Energie, Lebensmittel sowie Medikamente machen müssen.“
Der Krieg hat das Leben auch in Bonn verändert. Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine haben rund 4900 Menschen in der Bundesstadt Schutz gesucht. Sie sind bei Familien, bei Freunden oder Verwandten, bei hilfsbereiten Bonnern oder in städtischen Unterkünften untergekommen. Heute leben laut Stadtverwaltung etwa 3800 Menschen aus der Ukraine in Bonn. 1700 hat die Kommune in Sammelunterkünften, Wohnungen und Hotels untergebracht. Die Auswirkungen des Krieges sind im Bonner Alltagsleben spürbar.
Welle der Hilfsbereitschaft
Das Engagement der Einheimischen ist groß. Ehrenamtliche helfen als Wegweiser, Lotsen und Unterstützer im Alltag wie bei Behördengängen. Vereine organisieren Gütertransporte in die Ukraine. Das Zentrallager Sachspenden Bonn (ZeSaBo) hat nach eigenen Angaben mehr als 10.000 Menschen in Bonn und dem Umland zusätzlich mit 200.000 Waren versorgt, von Kleidung bis zu Haushaltsartikeln und Schulbedarf. Fast 700 Menschen wurden von den Bonnern in privaten Unterkünften aufgenommen. Nach einem Spendenaufruf der GA-Aktion Weihnachtslicht für die Ukraine-Hilfe gaben die Menschen bis Ende Januar 936.122 Euro.
Schulen und Kindergärten
Seit März 2022 haben die Grundschulen 460 zugewanderte Mädchen und Jungen aufgenommen, die meisten davon aus der Ukraine. Etwa 720 sind es laut Presseamt in der Sekundarstufe I, etwa 160 in der Sekundarstufe II. Der befürchtete Druck auf knappe Kita-Plätze ist ausgeblieben. Nach Kenntnis des Jugendamtes sind bis Ende Juli 55 Betreuungsverträge in Kindertagespflege und Kitas mit ukrainischen Kindern abgeschlossen worden, im neuen Kindergartenjahr weitere 35.
Lieferprobleme und Kaufzurückhaltung
Auch Wirtschaft und Einzelhandel bekamen Krieg und Inflation zu spüren. Die Händler stellen fest, dass die Leute beim Konsum zurückhaltend sind, so Jannis Vassiliou, Vorsitzender des Einzelhandelsverbandes Bonn Rhein-Sieg Euskirchen. Außerdem seien weniger Passanten in der Innenstadt unterwegs. Die Industrie- und Handelskammer hat eine Umfrage durchgeführt: Von 108 Unternehmen, die geantwortet haben, geben drei Viertel an, vom Krieg in der Ukraine betroffen zu sein. Eins davon führt Peter Kuhne. Er kann wegen der Sanktionen keine Maschinen mehr nach Russland exportieren, ein wichtiger Markt für ihn. Um die Maschinen zu produzieren, braucht er Stahl. „Die Preise sind durch den Krieg explodiert“, sagt er.
Hohe Energiekosten
Krieg, russischer Gaslieferstopp, Turbulenzen auf dem Energiemarkt – das bekommt auch Bonn zu spüren. Behördenbüros dürfen nur noch auf 19 Grad geheizt werden, die Stadt regelt die Wassertemperatur der Hallenbäder um ein Grad herunter, und fast jeder blickt mit Sorge auf seine Energierechnungen. Die Bonner sparen 2022 im Vorjahresvergleich nach Angaben der Stadtwerke Bonn (SWB) etwa 20 Prozent beim Gas – auch wegen des milden Winters. Alle Versorger ziehen ihre Preise an. Die SWB kündigt an, zum 1. April die hohen Beschaffungskosten mit zeitlicher Verzögerung an die Kunden weiterreichen zu müssen. Die Arbeitspreise steigen dann um mehr als 50 Prozent. Die staatlichen Preisbremsen dämpfen den Anstieg bis Jahresende. Ob sie verlängert werden, hat der Bund noch nicht entschieden.
Druck im Wohnungsmarkt
Die Ankunft der Ukrainer hat die Lage auf dem Wohnungsmarkt nach Ansicht der Stadt und des Mieterbunds weiter verschärft. Anja Ramos, Leiterin des Amtes für Soziales und Wohnen, sagte kürzlich: „Es wird einfach zu wenig bezahlbarer Wohnraum gebaut.“ Ähnlich sieht das der Geschäftsführer des Mieterbunds, Peter Kox. „Die Menschen aus der Ukraine drängen in ein Segment, in dem die Lage ohnehin sehr angespannt ist.“ Gemeint sind Förderwohnungen. Die Stadt Bonn habe Belegungsrechte für etwa 10 000 Sozialwohnungen, etwa sechs Prozent des Mietmarktes. Eigentlich, so Kox, bräuchte es 12 bis 14 Prozent solcher Unterkünfte.
Arbeit für die Stadtverwaltung
Der Zustrom der Kriegsopfer wird zum Kraftakt für die Stadtverwaltung. Beispiel Städtisches Gebäudemanagement Bonn (SGB): Laut Presseamt werden 290 Objekte geprüft, davon 84 angemietet, hergerichtet und den Menschen zur Verfügung gestellt. Im Moment plant das SGB zwei Containeranlagen Am Herz-Jesu-Kloster und In der Raste, um die Kapazitäten zu erweitern. Andere Aufgaben wie die Reparatur defekter Springbrunnen bleiben da schon einmal liegen. Beispiel Ausländeramt: 4800 Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis sind eingegangen. Da rund 900 Antragsteller Bonn wieder verlassen haben, erhielten laut Stadt 3900 Menschen eine Aufenthaltserlaubnis oder eine „Fiktionsbescheinigung zum vorübergehenden Schutz“. Die Bewilligung von Finanzhilfen läuft seit Sommer 2022 über das Jobcenter. Vorher war die Kommune zuständig – und kam kaum hinterher.
Der städtische Haushalt
Laut vorläufiger Berechnung haben Unterbringung, Versorgung und Betreuung der Geflüchteten in Bonn bislang knapp 23 Millionen Euro gekostet. Abzüglich der Bundes- und Landeszuschüsse trägt die Stadt davon etwa 870 000 Euro. Ausgaben für Geflüchtete, explodierende Energie- und Beschaffungskosten und zusätzlich benötigtes Personal treiben die Stadt noch weiter in die roten Zahlen, als sie ohnehin schon ist. Noch lässt das Land NRW zu, dass Folgeschäden der Coronakrise und des Krieges haushaltstechnisch „isoliert“ werden. Das ist wahrscheinlich nur noch wenige Jahre zulässig. Zuletzt rechnete die Kämmerei für 2027 deshalb mit einem Minus von 147 Millionen Euro. Spätestens dann droht der erneute Absturz ins sogenannte Haushaltssicherungskonzept (HSK) unter Aufsicht der Bezirksregierung Köln.