Zeitzeugen berichten Wie die Bonner Altstadt vor 70 Jahren aussah

Bonn · Bei einem Treffen 70 Jahre nach ihrer „Entlassung“ aus der Marienschule in der Bonner Altstadt schwelgen die ehemaligen Klassenkameraden in Erinnerungen. Was hat sich im Viertel ihrer Kindheit verändert? Eine Reise in die Nachkriegszeit.

 Eine Aufnahme von 1950 zeigt ein Mädchen, das auf dem Bürgersteig der Bonner Heerstraße Rollschuh läuft.

Eine Aufnahme von 1950 zeigt ein Mädchen, das auf dem Bürgersteig der Bonner Heerstraße Rollschuh läuft.

Foto: GA-Archiv

Lange vor dem Bau des Hallenbads und bevor der Ort ein beliebter Treffpunkt mit Außengastronomie wurde, fanden auf dem Frankenplatz in Bonn Kirmes und Zirkus statt. „Super war dat!“, erinnert sich Anton Feith. Beim Treffen zum 70. Jahrestag ihrer „Entlassung“ aus der Marienschule im „Sonja´s“ in der Innenstadt erzählten zehn ehemalige Klassenkameraden, die heute 85 Jahre alt sind, von ihrer Kindheit. Mit den Erzählungen lebt die heutige Bonner Altstadt noch einmal so auf, wie sie um 1945 aussah. Was hat sich verändert, was ist geblieben?

 Die historische Altstadt zwischen Rheinufer und Marktplatz wurde 1944 bei einem Bombenangriff zerstört. Die Aufnahme von 1949 zeigt die Verwüstung.

Die historische Altstadt zwischen Rheinufer und Marktplatz wurde 1944 bei einem Bombenangriff zerstört. Die Aufnahme von 1949 zeigt die Verwüstung.

Foto: Stadtarchiv Bonn

Wenn die ehemaligen Klassenkameraden an ihre Schulzeit zwischen 1944 und 1952 denken, sind das schöne Kindheitserinnerungen in düsteren Zeiten. „Wir haben in den Trümmern gespielt“, erzählt Ernst Rustemeier. „Wir haben Schrott gesammelt, alte Leitungen und sowas, und dann verkauft.“ Die Not war groß. Es gab kaum etwas zu essen und auch Heizmaterial war knapp. Hinter dem alten Friedhof bremsten die Menschen die Züge, die Kohle für die Alliierten transportierten. „Die Leute sind auf die Züge gesprungen und haben sich Kohlen in ihre Säcke gestopft“, sagt Ferdinand Kösters.

Anton Feith spielte mit Freunden gerne auf der Breite Straße Fußball. „Da kam ja kein Auto“, sagt er. Auf den Straßen erfanden die Jungs auch eine Art Golfspiel, bei dem sie mit langen Stöcken kleinere Stöckchen schlugen und schauten, wie weit sie kamen. Auch da war es gut, dass keine Autos umherfuhren, die man treffen konnte. Eine Fensterscheibe ging beim Ballspiel natürlich trotzdem mal zu Bruch. Auch am Annagraben in der Nähe der Haftanstalt, die 1995 abgerissen wurde, kickte Anton Feith gerne: „Die Insassen haben Zettelchen rausgeschmissen.“ Die Kinder fungierten als Postboten und brachten die Botschaften der Häftlinge zu den Empfängern.

Heute prägen Kneipen, Cafés und andere kleine Läden das Viertel um die Breite Straße. Gerd Kirschbaum erinnert sich noch an Zeiten, als es in der Gegend an jeder Ecke einen Bäcker gab. „Auch in der Heerstraße und Breite Straße – überall gab es Bäcker“, sagt er. „In der Franzstraße gab es auf 100 Metern drei Lebensmittelgeschäfte“, fügt Ferdinand Kösters hinzu. Eingepackt wurde alles in Papier. „Da gab´s noch kein Plastik.“

Geblieben ist die Marienschule in der Heerstraße

Vieles hat sich verändert in 70 Jahren. Das Gebäude der Marienschule steht noch in der Heerstraße. „Wir waren eine reine Jungenklasse und wurden in der Vorderseite des Schulgebäudes unterrichtet, die Mädchen auf der Rückseite“, erzählt Gerd Kirschbaum, der während des Zweiten Weltkriegs eingeschult wurde. Beim Fliegeralarm wurden die Jungen nach Hause geschickt.

„Das war eine katholische Schule, aber wir haben nicht gebetet, wir haben den Hitlergruß gemacht“, sagt Ferdinand Kösters. Eine Lehrerin der Klasse habe stattdessen einmal das „Vater unser“ aufgesagt. „Das war mutig“, sagt Kösters. Vor Schulbeginn mussten die Schüler sich in Reih und Glied aufstellen. Diese militärischen Strukturen blieben auch nach dem Krieg erstmal erhalten, erzählt er.

 Bei einem Treffen nach 70 Jahren schwelgten die ehemaligen Klassenkameraden der Marienschule in Erinnerungen.

Bei einem Treffen nach 70 Jahren schwelgten die ehemaligen Klassenkameraden der Marienschule in Erinnerungen.

Foto: Matthias Kehrein

Gekocht wurde in der Karlschule in der Dorotheenstraße „in einem großen Pott“, erinnert sich Anton Feith. „Dafür hatten wir alle Kesselchen dabei.“ Wenn den Jungen die „Ääzzezupp“, die Erbsensuppe, nicht schmeckte, schleuderten sie ihre Kesselchen herum, erzählt Feith. Auch Klassenkamerad Kösters erinnert sich an diese „Kotzfertige Suppe“ und lacht. Viel besser schmeckte die Schokolade, die die Jungen von den englischen Besatzungssoldaten an Weihnachten bekamen.

„Erinnert ihr euch noch an die Wärmestuben?“, fragt Kösters. „Ein Klassenzimmer in der Marienschule war dann offen, und die Leute konnten sich dort wärmen.“ Wärmeräume sind aufgrund der aktuellen Energiekrise in Bonn heute wieder im Gespräch.

Die wohl gravierendste Veränderung des Quartiers folgte viele Jahre nach der gemeinsamen Schulzeit von Kösters und seinen Klassenkameraden. Der Eingang zum ehemaligen Handwerkerviertel war früher gesäumt von Gründerzeithäusern, die für den Bau des Stadthauses in den 1970ern abgerissen wurden. „Das Stadtbild und der Blick von der Nordstadt aus hat sich dadurch unglaublich verändert“, sagt die pensionierte Lehrerin Sabine Harling, die im Verein „Bonner Geschichtswerkstatt“ aktiv ist.

Kleine Geschäfte wurden durch Kneipen abgelöst, sagt Harling, die in den 1960ern in der Dorotheenstraße wohnte. Auch die Verkehrsberuhigungen in den 1980ern hätten zu diesem Wandel beigetragen. Die Kunden, die früher mit dem Auto vor dem kleinen Supermarkt hielten und einkauften, wurden weniger.

 Viele Jahre nach der Zerstörung der historischen Altstadt im Zweiten Weltkrieg markiert eine Leuchtschild an der Breite Straße die heutige „Altstadt“.

Viele Jahre nach der Zerstörung der historischen Altstadt im Zweiten Weltkrieg markiert eine Leuchtschild an der Breite Straße die heutige „Altstadt“.

Foto: Benjamin Westhoff

Mit dieser Veränderung bekam das Viertel um die Breite Straße einen neuen Namen. Am 18. Oktober 1944 wurde die historische Altstadt, die sich zwischen Rheinufer und Markt erstreckte, bei einem Bombenangriff zerstört. Heute markiert ein leuchtendes Schild am Anfang der Breite Straße die neue „Altstadt“, die eigentlich zur Nordstadt gehört. Diese Bezeichnung sei eine Erfindung der Kneipenwirte gewesen, sagt Harling, die ein Viertel nach Vorbild der Kölner und Düsseldorfer Altstädte aufbauen wollten. Was sich sonst noch verändert hat? „Die Nordstadt ist bunter geworden“, sagt Harling.

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