Volker Ladenthin: "Scheinheiligkeit und Heuchelei"

Missbrauch habe nichts mit bestimmten Institutionen, sondern stets mit dem unmoralischem Handeln einzelner Menschen zu tun, sagt Volker Ladenthin, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Bonn.

 Volker Ladenthin.

Volker Ladenthin.

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Bonn. Missbrauch habe nichts mit bestimmten Institutionen, sondern stets mit dem unmoralischem Handeln einzelner Menschen zu tun, sagt Volker Ladenthin, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Bonn. Die Fragen an ihn stellte Walter Schmidt.

General-Anzeiger: Lenkt die Debatte um den Missbrauch durch Priester oder durch Erzieher an Internaten von den viel größeren Fallhäufigkeiten innerhalb von Familien und Nachbarschaften ab?

Volker Ladenthin: Wenn man in einer populären Fernsehschau wie "Germany´s next Topmodel" sieht, wie 16-jährige Mädchen aufgefordert werden, nur mit einem Bikini bekleidet durch einen ICE zu stöckeln, dann kann man fragen, ob hier Missbrauch von Jugendlichen sogar unter den Augen der Öffentlichkeit stattfindet. Solange man derlei sogar noch mit Werbung finanziert und im Fernsehen mit dem Hinweis auf die tolle Quote zeigt, hat die Empörung über die anderen Missbrauchsfälle etwas von Scheinheiligkeit und Heuchelei.

GA: Wie meinen Sie das?

Ladenthin: Man hat das Gefühl, als solle jetzt eine alte Rechnung beglichen werden: Endlich hat man ein Thema allgemeiner Abscheu gefunden, und kann es der Kirche anhängen. Wer etwa verlangt, "die Kirche" oder der Papst müsse sich bei "den Opfern" für den Missbrauch entschuldigen, führt die antike Kollektiv-Strafe wieder ein. Niemand verlangt zum Beispiel vom DFB, sich bei "den Fans" zu entschuldigen, weil sich Spieler einer Mannschaft haben bestechen lassen. Die Schuld liegt stets bei den Einzeltätern - nur dort. Sie haben das Vertrauen einer Institution rücksichtslos missbraucht; sie haben Menschen verletzt.

GA: Rückt die Debatte um Missbrauchsfälle an Internaten diese Schulform demnach in ein unverdient schlechtes Licht?

Ladenthin: Das Internat als Institution ist nicht anfälliger für sexuellen Missbrauch als andere Institutionen - denken wir nur an die jüngsten Vorfälle bei den Gebirgsjägern der Bundeswehr. Ursache für Missbrauch ist stets das unmoralisches Handeln einzelner Menschen. Die Missbrauchsfälle in der Bundeswehr führen ja auch nicht dazu, unsere Streitkräfte insgesamt in Frage zu stellen. Ich würde es sogar so sagen: Wenn im Internat auch noch die Geselligkeit und der Umgang pädagogisch gestaltet sind, ist hier der Schutz für Kinder und Jugendliche ungleich größer als in anderen Institutionen - wobei Missbrauch auch hier nie auszuschließen ist.

GA: Aber bergen Internate durch das Zusammenwohnen von Lehrern und Schülern nicht doch ein überdurchschnittliches Missbrauchs-Risiko?

Ladenthin: Die pädagogische Theorie, wie ich sie vertrete, hat immer ganz großen Wert auf die Unterscheidung von Beziehung und Erziehung gelegt: Eltern haben zu ihren Kindern eine emotionale Beziehung, die Körperkontakt einschließt; Internatserzieher hingegen müssen sich auf die professionelle Erziehung beschränken, auf pädagogische Distanz: Zuhören und Beraten, mehr nicht! Sie müssen eine scharfe Grenze zwischen Lern- und Lebenswelt ziehen. Erzieher, die stets diese professionelle Haltung beachten, begehen keinen Missbrauch.

GA: Dennoch ist das Zusammenleben in manchen Internaten ausdrücklich in so genannten Familien organisiert . . .

Ladenthin: Ein Internat muss Lernort bleiben, darf kein Ersatz für das Familienleben werden: Und so muss der Alltag bis hin zur Wohnsituation pädagogisch überlegt sein.

GA: Erhöht der Zölibat, also der Verzicht auf sexuelle Kontakte, das Missbrauchsrisiko für Kinder oder Schüler?

Ladenthin: Grundsätzlich nicht: Denn der Zölibat ist ja eine bewusste Entscheidung. Aber natürlich gibt es auch hier Menschen, die gegen die eigene Entscheidung leben.

GA: Wie kann eine Internatsleitung das Risiko sexuellen Missbrauchs so weit wie möglich eindämmen?

Ladenthin: Sexuelle Übergriffe liegen nicht in der menschlichen Natur begründet. Es sind unmoralische Handlungen, nicht einfach entschuldbare Triebtaten. Sie nutzen aus, dass Kinder sich nicht angemessen gegen Erwachsene wehren können - hier: intellektuell wehren können. Deswegen kann ein Internat seine Bewohner sehr gut gegen möglichen Missbrauch schützen: Risikominderung kann durch klare Regeln für den Alltag, eine genau definierte Erzieher- und Erzieherinnenrolle, eine gute Ausbildung und regelmäßige Weiterbildung erfolgen. Eine kluge Internatsleitung weiß im Voraus um mögliche Konflikte - und spricht sie angemessen und regelmäßig mit den Erzieherinnen und Erziehern an. So haben wir mit unserer Forschergruppe Internate übrigens auch kennen gelernt.

Zur PersonVolker Ladenthin, 1953 in Münster geboren, studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie. Nach der Habilitation in Allgemeiner Pädagogik 1994 berief ihn die Universität Bonn 1995 auf die Professur für Historische und systematische Erziehungswissenschaften. 2009 gab er mit anderen das Handbuch "Das Internat. Struktur und Zukunft" heraus.

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