"Was ich sah, waren keine Hände mehr"

Amokopfer Anna Petrova schildert ihren Überlebenskampf im Fernsehen - Am Freitag sagt sie als Zeugin vor Gericht aus

"Was ich sah, waren keine Hände mehr"
Foto: dpa

Sankt Augustin. Sie hat am 11. Mai wahrscheinlich einen Amoklauf an ihrer Schule und damit den Tod vieler Menschen verhindert - und wurde dabei selbst zum Opfer. Nun ist die mittlerweile 18-jährige Anna Petrova die wichtigste Zeugin im Prozess gegen ihre 16-jährige Mitschülerin Tanja O., der die Staatsanwaltschaft versuchten Mord, gefährliche Körperverletzung, Vorbereitung einer Sprengstoffexplosion und Verstoß gegen das Waffengesetz vorwirft.

Am Freitag soll Anna Petrova in den Zeugenstand treten, und wie bereits am ersten Verhandlungstag am Dienstag, an dem die 16-jährige Angeklagte hinter geschlossenen Türen ein umfassendes Geständnis ablegte, wird auch bei Annas Aussage die Öffentlichkeit aus Jugendschutzgründen ausgeschlossen.

Doch Anna Petrova stellte ihre eigene Öffentlichkeit her - am Mittwochabend bei Günther Jauch in Stern TV, an den sie ihre Geschichte exklusiv verkauft hat. Und wo der Zuschauer von ihr Dinge erfuhr, die er aus dem Prozess nicht erfahren wird. Sie schildert, wie sie an jenem Morgen aus dem Spanischunterricht zur Toilette ging, und beim Öffnen der Tür sofort von einer maskierten Person überfallen wurde. Es war die 16-jährige Tanja O., die mit zehn Molotowcocktails und einem Schwert in ihrem Rucksack in der Toilette ihren Amoklauf vorbereiten wollte.

Wie sie später zugab, wollte sie mit dem Schwert einen Lehrer niederstechen, ihm die Schlüssel für die Klassenräume abnehmen, dann ihre Brandsätze in Klassenzimmer werfen und von außen die Türen verschließen. Nun griff sie mit dem Schwert Anna Petrova an, und die kämpfte, wie sie bei Jauch schildert, um ihr Leben. "Sie stach auf meinen Bauch", sagt sie mit tonloser Stimme. Sie habe das Schwert gegriffen, versucht, es Tanja wegzureißen, doch die habe es ihr wieder entrissen und weiter zugeschlagen.

"Da kam ein Lehrer", berichtet Anna Petrova weiter, "ich dachte, er hilft mir. Aber da lag ich total falsch. Er drehte sich um und rannte weg." Eine für den Zuschauer schockierende und neue Nachricht, denn so hatte das die Staatsanwaltschaft bei Bekanntgabe der Anklage nicht dargestellt.

Dass auch das für Anna Petrova ein erschütterndes Erlebnis war, ist ihr deutlich anzumerken. Sie habe gedacht, so sagt sie, sie könne nicht mehr weiterkämpfen: "Ich wollte aufgeben", beschreibt sie ihre Gefühle. Doch dann habe sie daran gedacht, was ihre Mutter tun würde. Und da habe sie mit letzter Kraft Tanja weggestoßen und sei trotz ihrer Verletzungen nur noch gerannt. "Was ich sah, das waren keine Hände mehr. Es war nur noch Fleisch und Blut."

Fünf Stunden dauerte die Operation, und wie die ebenfalls in dem Beitrag befragten Ärzte und Therapeuten erklärten, ist es fraglich, ob die Hände wieder voll funktionstüchtig werden und das Gefühl zurückkommt. Noch sei das Gefühl nicht da, sagt sie. Und Zahnmedizin könne sie nun nicht mehr wie geplant studieren.

Die Narben an ihren Händen sind deutlich zu sehen. "Und die seelischen Narben?", wird sie gefragt. Die Bilder habe sie oft im Kopf, antwortet sie. Und jetzt während des Prozesses verstärkt. An dem will sie dennoch zusammen mit Mutter und ihrem Anwalt Uwe Krechel, der auch neben ihr bei Jauch sitzt, jeden Tag teilnehmen. "Ich will alles wissen."

Am ersten Verhandlungstag sei sie schockiert gewesen, als Tanja O. geschildert habe, was sie alles vorhatte. Gefasst habe die Mitschülerin auf der Anklagebank gewirkt - und ganz offensichtlich ihren Blick gemieden: "Sie wollte mich nicht anschauen." Warum die 16-Jährige einen Amoklauf geplant habe, sei ihr unbegreiflich, sagt Anna Petrova: "Ich verstehe nicht, wie jemand so seine Probleme lösen will."

Wie Günther Jauch einwirft, gebe es Parallelen zwischen Opfer und Täterin. Sie beide stammten aus der früheren Sowjetunion, beide Väter hätten die Familien verlassen. Wie schwierig es in einem solchen Fall mit einer finanziellen Entschädigung aussieht, erklärt Krechel, der auch drei Opfer des Amoklaufs von Winnenden vertritt. "Als Opfer einer Straftat hat man in unserem Land großes Pech", sagt er. Weder Schule, Land noch Bund zahlten.

Vielleicht für Anna Petrova der Grund, warum sie ihren Fall an den Sender verkauft hat. Allerdings, so Krechel, habe der Vater von Tanja O. signalisiert, dass er "einen gewissen Ausgleich herbeiführen möchte". Den Lehrer, der nach Anna Petrovas Darstellung damals weglief, hat sie, wie sie sagt, nie mehr gesehen: "Er ist nicht mehr an der Schule."

Tatsächlich hatte die Staatsanwaltschaft nach Anna Petrovas Aussage zunächst gegen den Lehrer ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der unterlassenen Hilfeleistung eingeleitet, wie Behördensprecherin Monika Volkhausen am Donnerstag auf Anfrage bestätigte.

Doch das sei eingestellt worden, nachdem der Lehrer seine Version geschildert hatte: Er habe einen Kampf bemerkt und geglaubt, eine Schusswaffe gesehen zu haben. Weil er dachte, gegen diese Waffe nichts ausrichten zu können, sei er sofort losgelaufen, um Hilfe zu holen und Alarm auszulösen. Auch er soll am Freitag als Zeuge gehört werden.

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