WCCB: Sprachlich verschleierte Insolvenzen

Immer neue Leistungsgesetze des Bundes treiben die Kommunen in die Überschuldung. Für den schwächelnden Bonner Haushalt ist das unfertige World Conference Center Bonn der große X-Faktor.

WCCB: Sprachlich verschleierte Insolvenzen
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Bonn. Krill frisst Plankton, Fisch Krill, Wal beides. Eine kurze Nahrungskette im Ozean. Mit den Steuern ist es komplizierter. Aber man kann sie in umgekehrter Richtung - vom Starken zum Schwachen - auch als Nahrungskette betrachten.

Nur handelt die Geschichte nicht vom Fressen und Gefressenwerden, sondern von einer Art kollektiven Beute: Hunde-, Sekt-, Mehrwert-, Tabak-, Mineralöl-, Versicherungs-, Gewerbe-, Einkommens-, Grundsteuer und vieles mehr. Das ergibt Milliarden, 561 waren es 2008.

Um die streiten sich Bund, Länder und Kommunen. Aber nicht wie eine hierarchielose Meute, sondern nach Hackordnung: Bund, Länder, Kommunen. In dieser Reihenfolge. Am Ende der steuerlichen Nahrungskette steht die Stadt oder Gemeinde. Sie erreicht von einem Euro Mehrwertsteuer 2,2 Cent, von einem Euro Einkommenssteuer 15 Cent.

Wo wenige Besserverdienende und viele Hartz-IV-Empfänger leben, sieht es düster aus. Strukturschwache Kommunen leben seit Jahren in der Abwärtsspirale. Geringe Wirtschaftskraft, hohe Arbeitslosigkeit, kleine Steuereinnahmen, hohe Soziallasten. Wer hier lebt, hat schon lange keine öffentliche Weihnachtsbeleuchtung mehr gesehen. Infrastruktur und Dienstleistungen rangieren dann weit unter deutschem Durchschnitt. Das zieht kaum neue Steuerzahler an. Ein Teufelskreis, der reiche und arme Städte weiter voneinander entfernt.

Aber auch Kommunen, deren Not nicht augenfällig ist, leben auf Pump, nehmen neue Kredite auf, um alte zu bezahlen. Oder sie überziehen das Konto (Kassenkredit). Rechtlich zulässige Kunstgriffe verzögern in NRW zudem manchen Kollaps. So entstanden Wortschöpfungen wie "Ausgleichsrücklage" oder "Allgemeine Rücklage", die alle etwas, zumindest fiktiv, mit Vermögen und Eigenkapital zu tun und den Zweck haben, in einem Haushalt Reichtum vorzutäuschen, wo keiner ist.

Folgerichtig und absurd zugleich führt der NRW-Kommunalfinanzbericht 2009 denn auch das Merkmal "fiktiv ausgeglichen". Damit wird ein Haushalt benotet, der nur durch Buchungstricks ausgeglichen ist. Diese legale Form der sprachlichen Verschleierung der eigenen Insolvenz nutzten 276 von 430 Städten, Gemeinden und Kreisen in NRW, um dem Haushaltssicherungskonzept (HSK) zu entgehen. Rund zwei Drittel sind also faktisch pleite und nur kraft Sprachkunst "gesund". Elf sind durch keinen Trick der Welt mehr gesundzubeten. Dazu zählen heute etwa Hagen, Oberhausen oder Duisburg.

Sie erleben bereits, was andere fürchten. Zwei Beispiele: Als Duisburg Geschwisterkinder von der Kindergartenbeitragspflicht freistellte, schritt die Bezirksregierung ein: Wer überschuldet ist, darf keine Gebühren erlassen - und bekam vor dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (1L-1700/09) recht.

Oberhausen wollte weiter in der Verwaltung ausbilden, und Ausbildung kostet. Die Bezirksregierung verbot das, und Oberhausens Personalchef André auf der Heiden schimpfte: "Zwangsverordnete Vergreisung." Familien in Duisburg, die aus Doppelverdienern und vielen kleinen Kindern bestehen, fragen sich, ob sie nicht besser in den Dunstkreis von Düsseldorf ziehen sollten, wo Kindergartenplätze gebührenfrei sind.

In das Lazarett der von sprachlichen "Eigenkapitalinfusionen" am Leben gehaltenen Kommunen strömt nun zeitverzögert die globale Finanz- und Wirtschaftskrise. Die Zangenbewegung aus sinkenden Steuereinnahmen und nochmals steigenden Soziallasten - von 1992 bis heute plus 80 Prozent - bedeutet für angeschlagene Patienten den K.o.-Schlag.

Der NRW-Städtetag sieht "eine reale Gefahr der Überschuldung von nahezu jeder zweiten Mitgliedsstadt". Zu den vom HSK bedrohten Kommunen gehört seit Jahren auch Bonn. Schon 2006 mahnte Regierungspräsident Hans Peter Lindlar, "dass die Stadt Bonn im Vergleich zu anderen kreisfreien Städten der gleichen Größenklasse des Landes weiterhin die höchste Verschuldung aufweist". Aktuell sind es 1,25 Milliarden oder 4 201 Euro pro Bonner.

Das harmoniert mit dem großen Trend: Bund und Länder leben auch auf Pump. 2010 werden es über 22 700 Euro Miese pro Bürger sein. 1950 waren es noch, kein Tippfehler, 188 Euro, 1990 schon 8 448 Euro. Die Schuldenuhr tickt, getrieben vom Zinseszins-Effekt, weiter. Die Staatsschulden wachsen pro Sekunde um 4 439 Euro, und ein Tag hat 86 400 Sekunden. Macht mehr als 383 Millionen Euro neue Schulden täglich.

Bonn zahlt täglich mehr als 300 000 Euro für Zins und Tilgung für Altschulden. Eine unglaubliche Zahl. Aber auf der Ebene kommunaler Finanzen liegen die Dinge anders als in einer Familie. Eine Stadt ist weniger selbstbestimmt. Der Bund diktiert, wofür sie gesetzlich aufzukommen hat. Das sind im Schnitt 75 bis 90 Prozent aller städtischen Ausgaben.

Die Kommunen torkeln seit langem. Wird es ganz ernst, verliert der Bürgermeister seinen Führerschein an den Regierungspräsidenten - und so das im Grundgesetz verbriefte Recht zur kommunalen Selbstbestimmung. Das klingt danach, als herrsche in Ratshäusern eine laxe Ausgabedisziplin.

Das täuscht. Der Rotstift kann nur bei freiwilligen Leistungen angesetzt werden: etwa bei Bibliotheken, Sport, Kultur, Nahverkehr oder Bädern. Also gerade in jenen Bereichen, bei denen der Wähler den Daumen über seine Stadt nach oben oder unten hebt. Doch das macht nur zehn bis 20 Prozent eines kommunalen Haushalts aus. Der große Rest ist vom Kita-Platz bis zu Hartz IV gesetzlich vorgeschrieben - vom Bund, der über der steuerlichen Nahrungskette thront.

Es ist offensichtlich: Das System krankt daran, dass die Regel "Wer die Musik bestellt, bezahlt sie" auf den Kopf gestellt ist. Die Formeln für den Finanzausgleich erstatten den Kommunen nicht eins zu eins das, was sie gesetzlich zahlen müssen. Vor laufenden Kameras verkündet die Bundesregierung Wohltaten, während Bürgermeistern der Kamm schwillt.

Allein das Wachstumsbeschleunigungsgesetz wird den bundesweit 12 500 Kommunen zwölf Milliarden Euro abverlangen - Geld, das sie nicht haben. In der Not verkauften manche in den letzten Jahren ihr Tafelsilber: Wohnungen, Stadtwerke, Kanalisation, Klärwerke - auch beflügelt vom allseits gesungenen Hohen Lied auf die freien Kräfte. Ein Irrweg. Heute kaufen jene, die es sich leisten können, unter der Überschrift "Rekommunalisierung" wieder alles zurück.

Die Kritik ist alt: Den Kommunen mangelt es an einer aufgabengerechten Finanzausstattung. Auf der letzten Hauptversammlung des Deutschen Städtetags sagte Geschäftsführer Stephan Articus mit Blick auf Bund und Länder: "Der Konkurrenz in der Formulierung wohlklingender Ziele entspricht ein kompletter Mangel in der Kooperation und Verständigung ihrer Umsetzung." Nun, 2010, hat die jahrelange Tatenlosigkeit Folgen. Wer seit Jahren chronisch unterfinanziert wirtschaften musste, den kann schon ein laues Lüftchen lahmlegen.

Nun strangulieren rapide sinkende Einnahmen die Kommunen. Sie leben zu einem kleinen Teil von der stabilen Grundsteuer, in weit größerem Maße aber von der konjunkturabhängigen Gewerbe- und Einkommenssteuer. So wird nachvollziehbar, dass der Arbeitsplatzabbau vor Ort und die Schließung einer Musikschule zusammenhängen können.

Bei vielen freiwilligen Leistungen hat die kommunale Not längst das Fett abschmelzen lassen. Jetzt geht es an die Substanz. Mancher Bürgermeister verschiebt eine Schulsanierung, ein anderer setzt die Wassertemperatur im Hallenbad herunter, ein anderer schließt es und das Theater gleich mit. Doch die Dimensionen sind ganz andere. Bürger und Bürgermeister können strampeln, wie sie wollen. Gegen die strukturelle Krankheit im Finanzgeflecht zwischen Bund, Ländern und Kommunen wird es nicht reichen.

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