Alkohol in der Schwangerschaft Wenn die Adoption zum Albtraum wird

Bonn · Jedes Jahr kommen in Deutschland Tausende durch Alkoholmissbrauch der Mutter während der Schwangerschaft geschädigte Babys zur Welt. Das Syndrom heißt "FASD" und äußert sich in schweren Verhaltensstörungen. Adoptiveltern fühlen sich von Jugendämtern betrogen.

 Alkoholmissbrauch in der Schwangerschaft kann Babys erheblich schädigen.

Alkoholmissbrauch in der Schwangerschaft kann Babys erheblich schädigen.

Foto: picture-alliance/ dpa

Eine Kleinstadt bei Bonn. Ein Wohnviertel mit verkehrsberuhigten Straßen, sorgsam gestutzten Hecken und frisch gefegten Gehwegen. Ein hübsches Einfamilienhaus mit verklinkerter Fassade, mit viel Platz im Inneren und eigenem Garten. Das sei ja alles geradezu ideal, um einem Kind ein neues Zuhause, ein warmes Nest zu schenken, gerät die Mitarbeiterin des Jugendamtes ins Schwärmen.

Das Haus gehört Elke und Edmund Schmitz (sämtliche Namen der Betroffenen wurden zum Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte von der Redaktion geändert). Sie konnten auf natürlichem Wege nicht Eltern werden, und deshalb sagten sie sich: „Es gibt so viele Kinder, die kein Zuhause haben. Dann adoptieren wir doch vernünftigerweise ein Kind.“

Die akribische Ortsbesichtigung gehört zum Standardverfahren. Adoptionswillige Paare werden komplett durchleuchtet, auf Herz und Nieren geprüft: Die charakterliche Eignung und die Stabilität der Partnerschaft werden gecheckt, Erziehungsziele und Konfliktlösungsstrategien abgefragt. Nicht nur die Wohnverhältnisse, auch die finanzielle Situation, der Gesundheitszustand, sogar die Krankheitsgeschichten der Vorfahren kommen auf den Prüfstand. Auch ein tadelloses polizeiliches Führungszeugnis gehört selbstverständlich dazu.

Viele Adoptionswillige schaffen die Prüfung nicht

Die Messlatte hat der Staat extrem hoch gelegt; viele adoptionswillige Paare werden nach eingehender Prüfung für nicht gut genug befunden. Die meisten Eltern leiblicher Kinder würden diese Prüfung ebenfalls nicht bestehen, bemängeln Kritiker das Verfahren.

Elke und Edmund Schmitz sind überglücklich, als der Staat ihnen schließlich die Befähigung zur Adoption bescheinigt. Und es dauert gar nicht lange, bis das Jugendamt einer Großstadt am Niederrhein den Bewerbern aus der Kleinstadt bei Bonn die anderthalbjährige Vanessa vermittelt. Das Mädchen ist bereits bei einer Pflegemutter untergebracht. „Die Frau hatte mehrere Pflegekinder und machte kein Hehl daraus, dass es ihr nur ums Geld gehe“, erinnert sich Elke Schmitz an die erste Begegnung. „Vanessa saß die ganze Zeit in einem Hochstuhl und wurde mit Schokolade vollgestopft, damit sie Ruhe gab.“

Im Dezember 2004 zieht das Mädchen schließlich bei ihnen ein, die behördliche Zuständigkeit geht vom Niederrhein auf das örtliche Jugendamt der Kleinstadt bei Bonn über. Und für das Ehepaar Schmitz beginnt alsbald ein Martyrium, das bis heute währt.

Vanessa kennt kein Sättigungsgefühl. Vanessa verhält sich extrem aggressiv gegenüber Frauen, während sie sich Männern, auch wildfremden Männern geradezu vertrauensselig nähert. Lange Zeit lernt sie nicht sprechen, sagt immer wieder nur ein einziges Wort, das sie nicht von den neuen Eltern gelernt hat: „Hasi.“ Sie kratzt die Tapeten von den Wänden. Auch nachts, im Tiefschlaf, verhält sich das Kind merkwürdig: Sie zupft unentwegt Flusen vom Schlafanzug, hält sie sich vor die Nase und inhaliert sie.

Aus dem Kindergarten, verstärkt dann aus der Grundschule bringt sie ständig Gegenstände mit, die ihr nicht gehören. Darauf angesprochen, sagt sie: „Hab‘ ich gefunden.“ In Wahrheit bestiehlt sie andere Kinder, entwickelt nicht das geringste Gefühl für Eigentum, für Recht und Unrecht. Fast täglich entdeckt Elke Schmitz Gestohlenes in Vanessas Schulranzen.

Vanessa lügt wie gedruckt, zu Hause, aber auch gegenüber Lehrern und Mitschülern. In der Schule erzählt sie zum Beispiel, bei ihr zu Hause gebe es keine Waschmaschine, und deshalb müsse sie alleine die Wäsche der ganzen Familie mit der Hand waschen. Wird sie ermahnt, reagiert sie mit Wutausbrüchen.

Vanessa kennt auch keine Empathie. Sie reagiert gefühllos auf das Leid anderer. Sie ist vollkommen auf die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse fixiert, und diese Bedürfnisbefriedigung duldet grundsätzlich keinen Aufschub.

Die Eltern erhoffen sich Rat und Hilfe vom Jugendamt. Aber dort gibt man ihnen zu verstehen, sie müssten schon etwas mehr Geduld aufbringen, das wachse sich erfahrungsgemäß alles noch aus. „Später gab man uns auch unterschwellig zu verstehen, wir seien vielleicht unfähig, ein Kind zu erziehen.“ Dabei erinnert sich Elke Schmitz noch gut an den Moment, als ihr eine Erzieherin im Kindergarten sagte, Vanessa weise schon deutliche Anzeichen für ein späteres Suchtverhalten auf.

Vanessa erhält die Gymnasialempfehlung. Ihr IQ liegt am unteren Durchschnitt, ihre rhetorische und manipulatorische Begabung hingegen weit darüber. Zudem besitzt sie das Talent, effizient auswendig zu lernen und das Gelesene kurzfristig abzuspeichern – zumindest bis zur nächsten Prüfungssituation.

Außerdem kann sie es nicht ausstehen, wenn andere Schüler bessere Noten kriegen.

Die Mitschüler gehen rasch auf Distanz

Ihr ständiges Lügen und das durchweg dissoziale Verhalten haben zur Konsequenz, dass sie keine Freunde findet, dass Mitschüler rasch auf Distanz gehen. „Andere Mädchen kamen einmal zum Spielen her – und dann nie wieder“, erinnert sich Elke Schmitz. Es vergeht kein Tag, an dem nicht Lehrer oder Eltern von Mitschülern anrufen und sich über Vanessa beschweren. „Ständig mussten wir uns rechtfertigen. Auch gegenüber Nachbarn und Behörden. Aber man will doch auch sein Kind beschützen.“

Natürlich sucht man die Schuld insgeheim auch bei sich selbst. Hat das Jugendamt vielleicht recht mit der Bemerkung, man sei womöglich nicht erziehungsfähig?

Bei Vanessa setzt die Pubertät sehr früh ein. Auch das ist kein Wunder, sondern gehört ins Krankheitsbild, wie sich erst später herausstellen wird. Aber es macht alles nur noch schlimmer. Das Ehepaar Schmitz gibt Vanessa in ein gutes Internat. Vielleicht können ja geschulte Päd-agogen mehr ausrichten. Es dauert nicht lange, und die Internatsleitung ruft an: Man möge Vanessa doch bitte wieder abholen. Es habe keinen Zweck. Vanessa ritze sich und zeige stolz ihre selbst zugefügten Wunden. Von einem erwachsenen männlichen Betreuer habe die Elfjährige Sex eingefordert.

Sieben verschiedene Schulen besuchte das inzwischen 16-jährige Mädchen bislang. Die Zahl der Kinderärzte, Psychologen, Logopäden, Ergotherapeuten, die das Ehepaar Schmitz mit Vanessa seit 2005 vergeblich aufsuchte, lässt sich nicht mehr an zwei Händen abzählen.

Erst vor vier Jahren äußert eine kluge und engagierte Kinderärztin erstmals den Verdacht: FASD – Fetal Alcohol Spectrum Disorder. Auch Fetales Alkoholsyndrom (FAS) genannt. Erstmals 1968 von französischen Wissenschaftlern beschrieben und 1973 durch Studien amerikanischer Forscher bestätigt. Verursacht durch den Alkoholmissbrauch der leiblichen Mutter während der Schwangerschaft.

Die Adoptiveltern reisen mit Vanessa ins westfälische Drensteinfurt. Die Experten der dortigen dia-gnostischen Klinik Walstedde bestätigen nach gründlicher Untersuchung den Verdacht: Sowohl die körperlichen Merkmale als auch Vanessas gesamtes Verhaltensspektrum sprechen klar für ein FAS-Vollbild, sagen die Spezialisten.

Alkohol gehört zu jenen toxischen Stoffen, welche die sogenannte Plazentaschranke, die die Blutkreisläufe von Mutter und Kind trennt, überwinden, sodass das Ungeborene über die Nabelschnur ungefiltert denselben Alkoholpegel abkriegt wie seine leibliche Mutter. Alkohol wird in der Leber abgebaut. Doch die Leber des Ungeborenen ist noch unfertig und entwickelt erst nach der Geburt einen eigenen leistungsfähigen Stoffwechsel.

In Abhängigkeit von Reifestadium, Alkoholmenge und individueller Disposition schädigt der Alkoholkonsum der Schwangeren irreversibel das Gehirn und damit die späteren kognitiven und sozialen Fähigkeiten des Ungeborenen. Experten schätzen, dass pro Jahr in Deutschland rund 12 000 FASD-Kinder geboren werden.

Eines Abends steht die Polizei vor der Tür

Die Gewissheit nach so vielen Jahren bedeutet für die Adoptiveltern zunächst ein Stück Erleichterung. „Ich dachte: Jetzt endlich kann unserem Kind geholfen werden“, erinnert sich Elke Schmitz. Eine trügerische Hoffnung. Denn es gibt nach derzeitigem Stand der Medizin keine Heilung. Die Hirnschäden sind irreparabel. Spezielle Therapien können die sozialen Folgen mildern – sofern die Diagnose schon im Kleinkindalter gestellt wird. Vielen unerkannten FASD-Kindern droht als Erwachsene das Abrutschen in die Sucht, in die Obdachlosigkeit, in die Kriminalität.

Eines Abends steht die Polizei vor der Tür. „Wir sind angerufen worden. Ihre Tochter hat mitgeteilt, sie sei von Ihnen soeben schwer misshandelt worden.“ Elke Schmitz fällt aus allen Wolken. Sie ist allein mit Vanessa, ihr Mann ist auf Pilgerwanderung auf dem Jakobsweg. Elke Schmitz bitte die Polizeibeamten ins Wohnzimmer und ruft Vanessa. Die kommt aus ihrem Zimmer, die Beamten überzeugen sich selbst, dass Vanessa wohlauf ist. Sie reden ein ernstes Wort mit der 15-Jährigen. Als sie sich verabschieden, fragt Elke Schmitz: „Wie hat sie denn aus ihrem Zimmer Kontakt aufgenommen? Ihr Handy liegt doch hier im Wohnzimmer.“

Da stellt sich heraus, dass Vanessa ein weiteres Handy besitzt – wie auch immer sie in dessen Besitz gelangt ist. Die gespeicherten Daten auf diesem geheimen Handy geben Aufschluss darüber, dass sich die 15-Jährige seit geraumer Zeit prostituiert und mit pornografischen Fotos und Videos für sich wirbt. „Einmal hatte sie auf Facebook binnen 24 Stunden Kontakt zu 200 Männern.“ Einem Fernfahrer, den sie im Internet kennenlernt, schreibt sie, er möge bitte mal vorbeikommen und ihre Adoptiv-eltern „fertigmachen“, weil die immer so eklig zu ihr seien.

Elke Schmitz erleidet nicht zum ersten Mal einen Nervenzusammenbruch. Sie muss Antidepressiva nehmen. Und das Jugendamt will partout nichts von der Ursache FASD wissen. Elke und Edmund Schmitz beginnen zu recherchieren. Sie treiben den leiblichen Vater auf. Der bestätigt, dass Vanessas damals erst 15-jährige Mutter auch während der Schwangerschaft die Finger nicht von ihrem Lieblingsgetränk Wodka lassen konnte.

Mit 15 schwanger? Da muss auch dem Jugendamt am Niederrhein bekannt gewesen sein, dass die minderjährige Schwangere trank.

Dann erfährt Elke Schmitz, dass die damalige Pflegemutter einen Termin beim Sozialpädiatrischen Zentrum hatte, der Termin aber wieder abgesagt wurde, weil die kleine Vanessa offenbar nicht krankenversichert war. Sozialpädiatrische Zentren (SPZ) sind Einrichtungen, in denen entwicklungsauffällige, behinderte oder von Behinderung bedrohte Kinder ambulant betreut werden. Ein weiteres Indiz. Und dann hört Elke Schmitz erstmals im vergangenen Jahr von den kryptischen Kennziffern im Kinderuntersuchungsheft, das bei jeder Geburt automatisch angelegt wird. In das gelbe Heft werden die obligatorischen Vorsorgeuntersuchungen bis zum sechsten Lebensjahr eingetragen. Zu Hause schaut sie in Vanessas Heft nach. Und wird fündig. Auf der ersten Seite. U1, die erste Untersuchung gleich nach der Geburt – „das war anderthalb Jahre, bevor wir Vanessa bekommen haben.“ Laut Stempel wurde die U1 im Universitätsklinikum Düsseldorf vorgenommen. „13/29“ steht dort kleingedruckt. „13“ steht für: minderjährige Mutter. „29“ steht für: Abusus – der medizinische Fachbegriff für den Missbrauch von Drogen, Medikamenten oder Alkohol.

Der Fall der Familie Schmitz ist kein Einzelfall. Mittlerweile haben sich zahlreiche FASD-Adoptiveltern zu Selbsthilfegruppen organisiert. Der „Spiegel“ berichtete vergangenes Jahr über weitere Fälle in der Bundesrepublik. Auch dort wussten die Jugendämter angeblich von nichts. „Die haben unser Vertrauen missbraucht“, sagte Adoptivvater Ralf Peukert dem Hamburger Nachrichtenmagazin. „Die haben unser Leben zerstört“, ergänzte Adoptivmutter Andrea Peukert und meint damit ein Jugendamt in Westfalen. Auch der ausgebildeten Pädagogin Peukert wurde vorgehalten, sie sei offenbar nicht erziehungsfähig.

Der Fall Vanessa ist kein Einzelfall

Das Magazin schilderte einen weiteren Fall aus Westfalen: Ein Paar hatte gleich drei Kinder adoptiert, bei denen erst viel später FASD diagnostiziert wurde. Eines Tages fiel die Adoptivmutter in der Küche vor Erschöpfung um. Sieben Wochen lag sie im Koma, dann starb sie. Im Alter von erst 43 Jahren.

„Das ist doch eine schöne Sache für den Staat“, sagt Elke Schmitz heute mit bitterem Unterton. „Mit der Adoption ist der Staat die Verantwortung und die finanzielle Last los.“ Professor Hans-Ludwig Spohr von der Berliner Charité, Leiter des dortigen FASD-Zentrums, hat eine klare Meinung zu der bislang geübten Praxis: „Vor einer Vermittlung sollten nicht nur die zukünftigen Adoptiveltern, sondern vor allem auch die Kinder umfangreich untersucht und eventuelle Diagnosen samt allen verfügbaren Befunden und biografischen Angaben offengelegt werden. Es wird niemandem gerecht, die oftmals schwer und lebenslang behinderten Kinder an Eltern zu vermitteln, die keine heil-pädagogische Erfahrung haben und mit der Versorgung der Kinder völlig überfordert sein müssen.“

Ganz zu schweigen davon, wenn die Adoptiveltern nicht einmal wissen, was das Kind hat.

November 2017: Das Jugendamt ruft beim Ehepaar Schmitz an. „Wir haben Vanessa in Obhut genommen.“ Warum das denn? Das Jugendamt nennt den Adoptiveltern keine Begründung. Aber dem zuständigen Familiengericht: Vanessa hat angegeben, sie sei zu Hause geschlagen und die Treppe hinuntergestoßen worden.

Im Kinder- und Jugendhilfegesetz heißt es in § 42 sinngemäß: Das Jugendamt ist schon dann berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn der Minderjährige um diese Obhut bittet – auch ohne dass eine tatsächliche Gefahr die Inobhutnahme erfordert.

Schon seit der Grundschulzeit drohte Vanessa dies regelmäßig dem Ehepaar Schmitz an, das Jugendamt einzuschalten, sobald ihr etwas gegen den Strich ging. Jetzt ist es soweit. Das Jugendamt bringt das Mädchen in einem Heim im Rheinland unter – gegen den ausdrücklichen Willen der Adoptiveltern.

Das Ehepaar Schmitz schaltet einen Anwalt ein, der am Ende 6000 Euro kosten wird. Es kommt zum Prozess. Der Richter gibt den Eltern recht. Elke Schmitz erinnert sich an eine bizarre Situation während des Gerichtstermins: „Plötzlich schaute die Vertreterin des Jugendamtes auf die Uhr, stand auf, sagte, sie habe jetzt Feierabend, und ging. Offenbar war das Wohl des Kindes in diesem Moment nicht mehr so wichtig.“

Vanessa kehrte nach vier Wochen zurück – „völlig verwahrlost, wie das zu erwarten war“, erinnert sich Elke Schmitz. „Da fängt man wieder bei null an.“ Während der Abwesenheit hat sie einen neuen Satz gelernt, den sie nun bei jeder Auseinandersetzung vorbringt: „Wollt ihr, dass es eskaliert?“

Seit August 2018 lebt die inzwischen 16-Jährige in einem vom zuständigen Jugendamt im Rheinland ausgewählten Heim am Niederrhein. Die Adoptiveltern haben keine Kraft mehr. Aber sie fühlen sich dennoch nach wie vor verantwortlich: „Das ist die völlig falsche Unterbringung für ein FASD-Kind, weil dieses Heim vom Konzept her auf Laissez-faire und möglichst viele Freiheiten setzt“, sagt Elke Schmitz.

„Wir telefonieren fast täglich miteinander oder schicken uns Textnachrichten per Handy“, erzählt die Adoptivmutter. „Vanessa hat in kürzester Zeit 25 Kilogramm zugenommen und leidet unter ihrem Übergewicht. Sie kann sich selbst nicht disziplinieren. Sie bleibt häufiger der Schule fern, weil sie sich von Ärzten krankschreiben lässt. Welcher Arzt macht so etwas? Sie ist dort völlig sich selbst überlassen. Wir mussten Vanessa zu Hause sogar täglich anhalten, sich die Zähne zu putzen. Wer kümmert sich jetzt um sie?“

Grenzenlose Freiheit ist Gift für FASD-Kinder

Als Edmund Schmitz seine Adoptivtochter in dem Heim besucht, liegt auf dem Tisch ihres Zimmers eine Rasierklinge herum – obwohl das Mädchen zu Selbstverletzungen neigt und als suizidgefährdet gilt.

Grenzenlose Freiheit ist das pure Gift für FASD-Kinder, weiß auch Marlene Mortler, die Drogenbeauftragte der Bundesregierung. „Die Schädigungen, die dem Ungeborenen durch pränatale Alkoholexposition entstehen, sind unumkehrbar. Um aber die Entwicklung von Sekundärbeeinträchtigungen zu mildern, benötigen die Betroffenen eine frühe Diagnosestellung.“

Weiter heißt es in der von ihr veröffentlichten FASD-Broschüre, die sich an Fachkräfte in der Kinder- und Jugendbetreuung richtet: „Für Dritte ist nicht nachvollziehbar, dass ein Mensch mit guten verbalen Kompetenzen an der Aufgabe scheitern sollte, sich mit Wasser, Seife und Shampoo zu reinigen. Aber genau diese Beobachtung machen die Angehörigen der Betroffenen regelmäßig.“ Deshalb zieht die Drogenbeauftragte der Bundesregierung den logischen Schluss: „Betroffene brauchen stabile Alltagsroutinen. Häufig ist hierfür eine kontinuierliche, enge Begleitung erforderlich.“

Vielleicht ist Frau Mortlers Broschüre vom Juni 2014 noch nicht in allen Jugendämtern eingetroffen.

Vergangenes Jahr hat eine FASD-Adoptivmutter vor dem Landgericht Bonn auf Entschädigung geklagt. „Das wollen wir gar nicht“, sagt Elke Schmitz. „Aber mein Mann und ich sind seelisch und körperlich völlig am Ende. Und wir alle, sowohl Vanessa als auch ihre Adoptiveltern, sind Opfer eines falschen Systems. Jetzt sollen mein Mann und ich auch noch für diese völlig unangemessene Heimunterbringung zahlen. Wir haben 14 Jahre lang gezahlt und gezahlt und gezahlt, weil wir uns keinen Rat mehr wussten, weil die Diagnose erst so spät gestellt wurde und weil das Jugendamt uns dann immer noch nicht geglaubt hat. Wir fühlen uns betrogen und völlig im Stich gelassen.“

Erst kürzlich räumte eine Mitarbeiterin des Jugendamtes im Gespräch mit der Adoptivmutter ein: „Wir sind bei Vanessa immer wieder in die Falle getappt.“ Eine Kostenübernahme käme aber wohl einem Schuldeingeständnis gleich.

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