Blick hinter die Kulissen in Bonn Wie die Kinderchirurgie im Marienhospital arbeitet

Bonn · In der Chirurgie herrscht Nachwuchsmangel, und die Situation wird sich in den nächsten Jahren verschärfen. Ein Blick in den Alltag eines Kinderchirurgen im Marienhospital.

Blick hinter die Kulissen in Bonn: Wie die Kinderchirurgie im Marienhospital arbeitet
Foto: Benjamin Westhoff

Die Schweißperlen laufen Wolfram Götz die Stirn hinunter. Seine grüne Haube ist bereits dunkel verfärbt. Langsam rutscht ihm die Brille über den verschwitzten Nasenrücken. Sein Blick ist dabei starr nach unten auf den Operationstisch gerichtet. Dort liegt ein sechsjähriges Mädchen. Der Kinderchirurg räuspert sich. Das Stichwort für die Assistenzärztin Sophie Heinrichs. Sie rückt Götz die Brille zurecht.

Während im Operationssaal Drei Stille herrscht, ist in den Fluren des Sankt Marienhospitals in Poppelsdorf bereits Hochbetrieb. Die Klinik schläft nie. Ärzte in weißen Kitteln, Krankenschwestern und Pfleger huschen durch die Gänge: Alltag in der Kinderklinik.

In Deutschland herrscht nicht nur in der Pflege, sondern auch in der Medizin Nachwuchsmangel. Besonders in der Chirurgie ist es schwer, gute Ärzte zu finden. Das liege unter anderem daran, dass sich wenige Medizinstudenten für die Fachrichtung Chirurgie entscheiden. „Krankenhäuser müssen daran arbeiten, dass die Chirurgie attraktiver für den Nachwuchs wird“, sagt Tobias Fritz von der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie.

„Die Chirurgie ist ein sehr kompetitives Fach, bei der gleichzeitig die Zusammenarbeit wichtig ist. Niemand kann alleine operieren.“ Hinzu komme, dass viele Frauen Medizin studierten und nach der Familiengründung in Teilzeit arbeiteten. Für ein funktionierendes Teilzeitmodell brauche es mehr Ärzte und Studienplätze.

Im St. Marienhospital der GFO Kliniken Bonn sind derzeit alle kinderchirurgischen Stellen besetzt. Das liege unter anderem daran, dass Bonn ein attraktiver Lebensraum sei. Dennoch ist sich Chefarzt Andreas Heydweiller bewusst, dass bundesweit Nachwuchsmangel herrscht. Bis 2020 werden etwa 11 000 Chirurgen in Deutschland in Rente gehen. Experten fürchten, dass in den folgenden Jahren viele chirurgische Arbeitsplätze unbesetzt bleiben, wodurch die einzelnen Chirurgen mehr belastet werden würden.

Dabei erfordert gerade dieser Beruf höchste Konzentration und Präzision, selbst bei Routineoperationen, zu denen der Eingriff in OP-Saal Drei gehört. Die sechsjährige Patientin von Götz und seinem OP-Team hat einen angeborenen Engpass am Harnleiter, eine Harnleiterabgangsenge, in dem sich Flüssigkeit staut.

Das führt dazu, dass Urin nicht vollständig abgeleitet wird, sich in der Niere staut und diese auf lange Sicht schädigt. Jeder Handgriff und jeder Schnitt des Kinderchirurgen muss sitzen. Heydweiller assistiert Götz. „Wir sind ein eingespieltes Team“, so Heydweiller. „Jeder kennt die einzelnen Handgriffe der Operation und die Technik des Operateurs.“

Das OP-Team besteht aus sieben Fachkräften. Der Anästhesist leitet die Narkose ein, überwacht sie und leitet sie am Ende aus, während der Anästhesie-Pfleger die Herzfrequenz und Sauerstoffsättigung der Patientin im Auge behält.

Ein sogenannter Instrumentierender reicht Götz während der Operation das sterilisierte Besteck an, welches er im Rahmen der OP-Vorbereitung gereinigt und angeordnet hat. Um das richtige Besteck im richtigen Moment anzureichen, muss der Instrumentierende wissen, was benötigt wird. Eine Springerin, die das Team am OP-Tisch unterstützt, lässt Götz nicht aus den Augen.

Zwei weitere Ärzte assistieren dem Operateur bei seinem Eingriff. Mit Haken halten sie die Öffnung am Kinderkörper auf, damit der Chirurg freie Sicht hat. Jeder kennt den Ablauf der Operation. Das sechsjährige Mädchen ist vollständig mit sterilen, blauen Tüchern abgedeckt. Nur ein kleiner Spalt in Höhe der Niere bleibt offen. „Das wahrt die Distanz zum Patienten“, sagt Götz. Sobald das letzte blaue Tuch die Patientin bedeckt, fokussiert sich der Arzt nur noch auf die Niere und den verengten Harnleiter.

Unter den sterilen Tüchern ist das Mädchen jedoch nicht alleine. Zwischen Schläuchen und Zugängen liegt ein kleiner, hellblauer Teddybär. Er begleitet die Sechsjährige durch die Operation. „Das nimmt den Kindern die Angst“, sagt Götz. Der Instrumentierende reicht dem Kinderchirurgen einen schwarzen Stift. An dessen Ende sind schmale Drähte angebracht.

Der beißende Geruch von verbranntem Gewebe erfüllt den Saal. Mit dem Elektrokauter spaltet der Chirurg die Fettschicht der Patientin auf. Präzise trennt er den Harnleiter vom Nierenbecken, entfernt die Engstelle und führt den sogenannten Pig-Tail ein. Der Pig-Tail ist ein Katheter, dessen Enden geringelt sind wie der Schwanz von einem Schwein. Er verhindert, dass sich das Narbengewebe nach der Operation zusammenzieht und sich dadurch eine erneute Engstelle bildet.

Die Kinderchirurgie behandelt häufig angeborene Fehlstellungen. „Die Herausforderung dabei ist, bei jeder Naht daran zu denken, dass das Ergebnis ein Leben lang halten soll“, erläutert Götz.

Zur selben Zeit im Untergeschoss des Klinikums: Stephan Buderus, Gastroenterologe für Kinder und Jugendliche, bereitet sich auf die Endoskopie eines einjährigen Kindes vor. Der Junge wurde in der Nacht in die Kinderambulanz eingeliefert. Es besteht der Verdacht, dass er bis zu 100 Milliliter Bleichmittel getrunken hat. Mit dem Endoskop kann sich Buderus Mundraum, Speiseröhre und Magen des Patienten anschauen.

„Wenn die Vermutung der Mutter stimmt, müsste der Junge bereits Verätzungen im Mundraum haben“, sagt Buderus. Er wirft einen letzten Blick auf die Unterlagen des Jungen und wendet sich zum Anästhesisten: „Schlafpilot, das wird ein schneller Eingriff.“

Der Anästhesist leitet die Narkose ein. Der Eingriff wird keine zehn Minuten dauern. „Ein endoskopischer Eingriff tut nicht weh, Kinder werden trotzdem narkotisiert, damit sie stillliegen und keine Angst bekommen“, sagt Buderus.

Wenige Sekunden später schläft das Kind. Seine Augen sind abgeklebt, er liegt auf dem Rücken. Mit schnellen, gekonnten Griffen führt der Gastroenterologe das Endoskop ein. Mit der rechten Hand hält er das Endoskop, das am Ende mit einer Kamera ausgestattet ist. Mit der linken Hand kann Buderus den Kamerakopf mit einer Art Schaltknüppel steuern.

Vom Mundraum aus beginnt der Gastroenterologe über die Speiseröhre in den Magen und den Zwölffingerdarm zu schauen. „Das sieht gut aus“, sagt Buderus und schaut sich das rosafarbene Innere des Kindes an. „Keine Anzeichen von Verätzungen. Das Kind hat kein Bleichmittel getrunken.“

Zur Sicherheit wird eine kleine Probe, eine Biopsie, entnommen, die anschließend in der Pathologie untersucht wird. Dazu schiebt Buderus einen feinen Draht in das Endoskop. Am Ende des Drahtes sind winzige Zangen. Mit denen kann er Proben aus der Magenwand entnehmen. „Schlafpilot, ansetzen zum Landeanflug“, sagt Buderus und zieht das Endoskop heraus. Die Narkose wird ausgeleitet. Der Eingriff hat nur vier Minuten gedauert.

Von den Fluren ertönen laute Stimmen und Gelächter von Kollegen, während Götz in OP-Saal Drei damit beginnt, die Fettschicht der Niere, die Nierenfettkapsel, zusammenzunähen. Währenddessen startet der Anästhesist mit der Ausleitung der Narkose. Der Kinderchirurg betäubt am Ende die Wunde lokal. „Das Kind soll nicht weinend aus der Narkose aufwachen, weil es Schmerzen hat.“

Götz tritt vom OP-Tisch zurück. Er nimmt seine Haube ab, wischt sich den Schweiß von der Stirn und rückt seine Brille zurecht. Er verlässt den OP-Saal. Aber nur für einen Moment. Entspannen kann er sich vorerst nicht, er wird an diesem Tag noch zwei weitere Operationen durchführen. Bevor er geht, nimmt der Chirurg einen Kugelschreiber zur Hand und unterschreibt einen Zettel. Es ist eine Tapferkeitsurkunde für seine Patientin.

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