Zugreifen und Loslassen: Die „Pendelstrategie“ von Bundestag und Bundesregierung Entscheidungen bei begrenzter (Un-)Gewissheit

Die Bewältigung einer Pandemie führt zwangsläufig zu Konflikten vor Gericht. Wie stark darf der Staat Freiheit und Grundrechte einschränken, um das hohe Gut der Gesundheit zu schützen? Was ist angemessen, was verhältnismäßig? Ein Exkurs aus Sicht der Rechtswissenschaft:

 Justitia mit verbundenen Augen und Waage (hier vor dem  Kriminalgericht Moabit in Berlin): Immer mehr politische Corona-Entscheidungen – das ist absehbar – werden Richter auf ihre Verhältnismäßigkeit hin überprüfen müssen.

Justitia mit verbundenen Augen und Waage (hier vor dem  Kriminalgericht Moabit in Berlin): Immer mehr politische Corona-Entscheidungen – das ist absehbar – werden Richter auf ihre Verhältnismäßigkeit hin überprüfen müssen.

Foto: picture alliance / Jens Kalaene//Jens Kalaene

Statistisch gesehen ist, wie uns Medizinhistoriker lehren, etwa alle 25 Jahre mit einer Pandemie zu rechnen. Die abstrakte Gefahrenprognose, in statistische Wahrscheinlichkeit gekleidet, bewahrt nicht davor, dass ihr konkreter Eintritt Unsicherheit und Angst erzeugt.

Tatsächlich sind Ursachen-Wirkungs-Zusammenhänge bei einer Pandemie kompliziert. Mediale Verstärker erschweren ein eigenes, nüchternes Urteil. Bemerkenswert ist, dass sich trotz frühzeitiger Warnungen keine Gruppe dieser Unsicherheit entziehen kann: Politische Entscheidungsträger, von den Maßnahmen direkt oder indirekt Betroffene, ja auch: Sachverständige und Gerichte.

Das staatliche Krisenmanagement bestätigt bis in Einzelheiten der zu erwartenden Reaktionen in verblüffender Weise ein Szenario, das bereits in einer am 3. Januar 2013 von der Bundesregierung dem Bundestag unterbreiteten „Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012“ beschrieben wurde.

Darin wird ein angenommenes Szenario für das Jahr 2020 unter dem Titel „Pandemie durch Modi-Sars“ entfaltet, das ein außergewöhnliches Seuchengeschehen beschreibt, von Asien ausgeht und in drei Wellen weltweite Verbreitung findet. Der angenommene Erreger weist neuartige Eigenschaften auf und wird „Sars-CoV“ genannt.

Treffende fachliche Voraussicht kann freilich die Krisenbewältigung im Ernstfall nicht vorwegnehmen: Es sind unterschiedliche Akteure zu unterschiedlichen Zeiten mit unterschiedlichem Handlungsdruck, die das konkrete Handeln bestimmen. Unter dem Aspekt der Gefahrenabwehr ist es deshalb auch müßig zu fragen, ob mögliche Vorkehrungen wie die Vorhaltung von Gesichtsmasken, apparativer oder personeller Ausstattung schuldhaft versäumt wurden.

Es gilt, einer akuten Gefahrenlage wirksam entgegenzutreten. Ungeachtet einer etwaigen unzulänglichen Erfüllung des Vorsorgeauftrags entspricht eben dies dem grundrechtlichen Schutzauftrag des Staates.

Nicht zu übersehen ist, dass das mit dem Aufkommen der Covid-19-Pandemie in Deutschland einsetzende Krisenmanagement in Bund und Ländern vielfach gravierende Einschränkungen im Alltagsleben mit sich gebracht hat. Dessen Auswirkungen sind nach wie vor spürbar, ihre Folgen für Staat und Gesellschaft nachhaltig erfahrbar. Die staatlichen Interventionen bestimmen bis heute den öffentlichen Diskurs.

Sie brachten schnell Verwaltungs- und Verfassungsgerichte ins Spiel, die mit der Bewältigung zahlreicher Verfahren in kürzester Zeit Schwerarbeit zu leisten hatten. Gesellschaftliche Gegenkräfte wurden in Protestversammlungen mobilisiert, die sich nicht nur aus besorgten Mitbürgern, sondern auch aus einer kruden Mischung von wahrnehmungsblindem politischem Extremismus und Anarchismus rekrutieren.

Massive Drohungen gegenüber Virologen und Politikern und um sich greifende Verschwörungstheorien fanden in dem Zusammenspiel von dem Entzug gewohnter, lieb gewonnener Freiheiten und der Ungewissheit der Situation fruchtbaren Boden.

Bei einer faktenbasierten, grundrechtlich geleiteten Betrachtung sollten sich viele der getroffenen Maßnahmen besser verstehen und in ihrer durchaus bestehenden Problematik ohne Verdrängung von Gefahren oder deren Dramatisierung einordnen lassen. Insofern ist zunächst zu bestimmen, was die jüngste Corona-Krise besonders ausmacht und was sie von sonstigen Krisensituationen unterscheidet.

Eine erste, sich nicht zuletzt auf das Urteil von Epidemiologen stützende Antwort lautet: Es ist die ungewöhnliche Breitenwirkung des Virus, die alle Lebensbereiche und gesellschaftlichen Kreise umgreift und deshalb weitreichende staatliche Interventionen auf den Plan gerufen hat, aber auch der dynamische Verlauf der Pandemie, der – inzwischen gut belegt – dramatische Formen annehmen kann.

Weltweit finden sich alle denkbaren Strategien zwischen dem Konzept einer „Durchseuchung der Gesellschaft“ bis hin zur größtmöglichen Vermeidung von Ansteckungssituationen.

In Deutschland suchten Bundesregierung und Bundestag anfänglich noch betont gemeinsam mit den Ländern eine Lösung, die man als „Pendelstrategie“ bezeichnen könnte: Zunächst ein robustes Zugreifen (Lockdown und Shutdown), später, nicht ohne Druck der Länder, ein ebenso entschiedenes Loslassen (Lockup), dann wieder begrenzte Lockdowns.

Viren können jeden treffen. Wenn man sie schon nicht gänzlich ausmerzen kann, muss man versuchen, ihnen nach Möglichkeit aus dem Wege zu gehen und ihre Verbreitung zu hemmen – die eigene, zunächst unbemerkte Ansteckung bildet zugleich eine Gefahrenquelle für andere.

Von daher ist nicht nur der Staat gefordert, soweit es darum geht, die Verbreitung von Viren einzudämmen. Soweit es um den staatlichen Beitrag geht, kommt dieser einem grundrechtlichen Auftrag nach, den elementaren Rechtsgütern „Leben und Gesundheit“ den notwendigen Schutz zukommen zu lassen.

Dieser Auftrag entbindet ihn selbstverständlich nicht von der Pflicht, bei Maßnahmen zur Eindämmung des Virus die übrigen verfassungsrechtlichen Vorgaben zu wahren.

Die Kritik an einzelnen Maßnahmen zur Erfüllung dieses Auftrags entspricht der möglichen Fehlerhaftigkeit auch staatlicher Entscheidungsprozesse. Inwieweit ihr aus rechtlicher Sicht zu folgen ist, ist eine andere Frage: In einem Rechtsstaat entscheiden aus gutem Grund letztlich unabhängige Gerichte darüber, ob eine Rechtsverletzung vorliegt.

Durch die verschiedenen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie wird eine Reihe von grundrecht­lichen „Schutzbereichen“ – teilweise massiv – betroffen: Die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ ist als sogenanntes „Auffanggrundrecht“ bei zahlreichen Maßnahmen berührt: Bei der Tragepflicht von Schutzmasken, bei Abstandsgeboten, Ausgeh- und Kontaktverboten sowie Nutzungs- und Betretungsverboten.

Das eng damit verbundene Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist betroffen durch die Pflicht, in gefahr­erhöhenden Situationen die Erfassung von persönlichen Daten zur besseren Nachverfolgung von Infek­tionen, gegebenenfalls auch einen Test auf das Virus zu dulden, der auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit berühren kann.

Die mit einer langen, auch leidvollen Geschichte verbundene Religionsfreiheit ist angesprochen bei staatlich veranlassten Einschränkungen von Gottesdiensten, kirchlichen Feiern und Veranstaltungen, die in einzelnen Bundesländern unterschiedlich, teils in Abstimmung mit den Kirchen und ihren Verbänden, geregelt sind.

Kontaktsperren und die Schließung von Kitas und Schulen berühren das Recht auf den besonderen Schutz der Familie und das Recht auf Bildung. Die Versammlungsfreiheit sieht sich als klassisches „demokratisches“ Grundrecht auf den Prüfstand gestellt, wenn geplante Demonstrationen untersagt oder nur mit besonderen Auflagen versehen durchgeführt werden können.

Das Recht der Freizügigkeit ist berührt, wenn die eigene Wohnung oder ein anderer inländischer Aufenthaltsort nicht mehr aufgesucht werden darf, die Berufsfreiheit ist tangiert bei Geschäftsschließungen, Beherbergungsverboten oder Auflagen für den Geschäftsbetrieb, die Eigentumsgarantie bei Nutzungseinschränkungen und Beschlagnahmungen.

Belastende staatliche Maßnahmen wie Ge- oder Verbote bedeuten, dass das jeweils betroffene Grundrecht eingeschränkt wird.

Indes ist nicht jede Einschränkung eines Grundrechts bereits eine rechtswidrige Grundrechtsverletzung, schon gar nicht wird es, wie gelegentlich zu hören, durch solche Maßnahmen „außer Kraft gesetzt“. Der Eingriff kann vielmehr „immanent“ durch eine im Grundrecht selbst angeführte Einschränkung (so: „friedlich“ bei Versammlungen) oder durch ein einfaches Gesetz gerechtfertigt sein, das seinerseits die Grundlage in einem dem Grundrecht beigefügten Gesetzesvorbehalt findet. Wir kennen dies von einer Vielzahl von Alltagssituationen etwa im Verkehrs- oder im Abgabenrecht.

Beispielhaft lässt sich dies nachvollziehen am Grundrecht der „freien Entfaltung der Persönlichkeit (Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz). Es lautet: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte Anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung verstößt“ (gemeint ist: soweit er nicht gegen die verfassungsgemäß zustande gekommene Rechtsordnung verstößt). Darin findet neben dem Prinzip der „eigenverantwortlichen“ Persönlichkeitsentfaltung zugleich das der „gesellschaftlichen Mitverantwortung“ seinen Ausdruck. Die individuelle Freiheitsentfaltung steht also unter dem Vorbehalt des Ausgleichs mit den Rechten Anderer und möglichen rechtfertigungsbedürftigen, staatlichen Einschränkungen. Einer solchen Grundstruktur folgen im Wesentlichen – mit gewissen Nuancierungen – alle anderen, möglicherweise betroffenen Grundrechte.

Die Suche nach einer Antwort auf die Frage, ob eine Maßnahme konkret mit Grundrechten vereinbar ist, hat stets bei dem damit verfolgten Ziel anzusetzen: Im Kampf gegen das Virus Sars-CoV-2 geht es um den Schutz hochrangiger Grundrechte, nämlich Leben und körperliche Unversehrtheit einer unbestimmten Vielzahl von Menschen angesichts der Covid-19-Epidemie. Anfänglich ließ sich als Unterziel ausmachen: die Vermeidung der Überforderung des Gesundheitssystems und Sicherung der medizinischen Versorgung zur Eingrenzung exponentieller Ausbreitung. Später: die Reduktion der Zahl der Ansteckungen zur nachhaltigen Eindämmung der Epidemie.

Wie leicht nachvollziehbar, stellen Epidemien den Staat in besonderer Weise vor die Aufgabe einer Auflösung von Zielkonflikten bei der Wahl der in Betracht kommenden Instrumente. Diese können ihrerseits wiederum verschiedene grundrechtliche Positionen berühren: Einerseits den Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit für eine unbestimmte Vielheit von Personen, andererseits die Wahrung der Freiheits- und Gleichheitsrechte der von den Anordnungen Betroffenen und die Einbeziehung gesamtgesellschaftlicher Belange.

Wenn Kontaktbeschränkungen vereinzelt als „Entmündigung und Freiheitsberaubung“ qualifiziert wurden, ist dies nicht nur eine sprachliche Übertreibung. Es zeugt auch von einem betont individualistischen Denken, das sich dagegen sperrt anzuerkennen, dass es auch um den Schutz berechtigter Belange Dritter geht.

Der notwendige Abwägungsprozess zwischen dem Eingriffsziel „Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit“ und den dazu ergriffenen, grundrechtsbeeinträchtigenden Maßnahmen erfährt seine rechtsstaatliche Steuerung durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Dieses hat eine lange Tradition. Es umfasst die drei Teilprinzipien „Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit“.

Damit sind von vornherein ungeeignete Maßnahmen ausgeschlossen. Diese sind freilich sehr selten, weil nach gefestigter Rechtsprechung „Teileignung“ genügt. Das beantwortet die Frage der Zulässigkeit des Gebots, in bestimmten Kontaktsituationen eine Gesichtsmaske zu tragen: Selbst wenn Alltagsmasken nicht einen vollen Schutz gewähren, reicht dies für ein Tragegebot in Gefährdungslagen aus.

Jedenfalls zeigt die Erfahrung aus verschiedenen Ländern (insbesondere Japan und Schweden), dass das Tragen einer Gesichtsmaske mit dazu beiträgt, die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus zu reduzieren; ihre Anordnung ist also mehr als reine Symbolpolitik.

Ähnliches gilt für zunehmend Bedeutung gewinnende Anordnung von Tests im Zusammenhang mit besonderen Gefährdungssituationen sowie mögliche Quarantänen für Einreisende aus Risikogebieten, selbst wenn diese sich in der Praxis vielfach einer effektiven Kontrolle entziehen mögen.

Erforderlichkeit heißt: Es ist das mildeste Mittel zu wählen. Bildhaft gesprochen: „Es darf nicht mit Kanonen nach Spatzen geschossen werden“. Nimmt man erneut die Beispiele Abstandsgebot und Gesichtsmasken in den Blick, so lässt sich sagen: Beide stehen für relativ geringe Be­einträchtigungen individueller Freiheit und sind die mildesten Mittel bei der Bekämpfung einer Epidemie. Ebenso sind „Auflagen“ mildere Mittel als Verbote, räumliche und situative Begrenzungen bei Hotspots schonender als umfassende Beschränkungen.

Im Einzelfall kann freilich eine anlassbezogene, weiter greifende Maßnahme durchaus einen höheren Eignungsgrad aufweisen als die schonendere Alternative, womit der staatliche Entscheidungsspielraum wieder geöffnet wird.

Angemessenheit bedeutet, dass die Maßnahme nicht außer Verhältnis zum angestrebten Zweck stehen darf. Insofern ist eine Nutzen-Schaden-Betrachtung angezeigt, also eine Abwägung gefordert; der Nutzen der Maßnahme muss größer sein als die damit verbundenen Nachteile.

An dieser Stelle spitzt sich die verfassungsrechtliche Problematik zu: Der Nutzen liegt in dem jeweiligen Beitrag der Maßnahme zur Eindämmung der Epidemie. Es geht um den Schutz von Leben und Gesundheit. Ersteres ist buchstäblich ein existentielles Gut, letztere ein empfindliches, latent gefährdetes, in den Worten des Philosophen Immanuel Kant „trans­zendentes“ Gut, das Voraussetzung für viele Lebensvollzüge ist. Geschützt werden sollen also hohe Rechtsgüter in einer unmittelbar drohenden Gefahr für eine große Zahl von Personen. Andererseits können die Belastungen bei weitergehenden Anordnungen – wie Ausgeh- und Besuchsverboten, Schul- oder Geschäftsschließungen – für einzelne Grundrechtsträger, aber auch die gesamte Gesellschaft beträchtlich sein. Namentlich bei dem gleichzeitigen Einsatz verschiedener Instrumente, bei dem das öffentliche Leben weithin lahmgelegt wird (Shutdown), ist dies der Fall. Insofern handelt es sich um massiv belastende Anordnungen von erheb­licher Eingriffstiefe.

Das bedeutet konkret: Je größer die Belastungsintensität einer gesetzlichen Regelung für die Betroffenen ist, umso strengere Anforderungen sind an ihre Rechtfertigung zu stellen. So haben allgemeine Hygieneanleitungen (Händewaschen), Regelungen zum Einhalten eines bestimmten Abstands oder zum Tragen eines Gesichtsschutzes in der Regel eine geringere Belastungsintensität als Ansammlungs- oder Veranstaltungsverbote, Besuchs- und Einreiseverbote, Beschlagnahmungen oder die Schließung von Geschäften und öffentlichen Einrichtungen oder gar Quarantänen.

Die Je-Desto-Struktur ist typisch für die Entscheidung bei grundrechtlichen Konflikten. Die Politik sieht sich, wie auch immer sie sich entscheidet, dem Vorwurf ausgesetzt, entweder zu viel oder zu wenig getan zu haben. Die einen empfinden Einschränkungen als unerträgliche Zumutung, die anderen als ein Versagen bei der Gewährung des gebotenen staatlichen Schutzes. Indessen geht es nicht um eine auch nur teilweise Außerkraftsetzung oder Aushöhlung von Grundrechten, sondern um deren gesetzlich legitimierte Einschränkung in einer bestimmten Situation.

In dem Konfliktfeld zwischen dem Schutz von Leben und Gesundheit einerseits und der Beeinträchtigung von Freiheitsrechten oder auch des Eigentumsrechts andererseits können verschiedene Faktoren Bedeutung gewinnen. Neben dem Grad der Belastung geht es um die Erfolgsaussichten von Strategien, die der spezifischen Dynamik der Epidemie angepasst sind. Eine Rolle spielen dabei unterschiedliche Gefährdungsgrade von Personen (Personen mit bestimmten Vorerkrankungen, ältere Personen, Kinder, Systemrelevanz) oder Räumen (Gaststätten, Versammlungsstätten, Seniorenheime, Dienstleistungsbetriebe, Geschäfte). Insofern kann nur eine Abwägung, die an den Erkenntnissen der epidemiologischen Wissenschaft und an der konkreten Lebenswirklichkeit ausgerichtet ist, für sich in Anspruch nehmen, den grundgesetzlichen Anforderungen zu entsprechen.

Hier kommen nun zwei Besonderheiten zur Geltung: Zum einen die Spezifik des epidemischen Charakters des Coronavirus Sars-CoV-2, den es einzudämmen gilt, zum anderen die Typik von Gefahrenabwehrmaßnahmen als Entscheidungen bei begrenzter (Un-)Gewissheit. Beide beschreiben bedeutsame Rahmenbedingungen möglicher Eindämmungsmaßnahmen. Wir wissen inzwischen – bei allen auf uns einströmenden, auch widersprüchlichen Informationen – Einiges von seiner Gefährlichkeit. Wie uns die Epidemiologen insbesondere in der Anfangsphase der Pandemie vermittelt haben, wissen wir aber auch, dass wir vieles noch nicht wissen.

Indes zeigen gerade epidemische Krisen, dass staatliche Schutzmaßnahmen auch dann möglich sein müssen, wenn es an einer absoluten Gewissheit über deren weiteren Verlauf und die Erforderlichkeit bestimmter Mittel fehlt. Entscheidungen „bei begrenzter Gewissheit“ werden in der Entscheidungstheorie denn auch eher als Regel denn als Ausnahme angesehen. Auch für Juristen sind Entscheidungen bei nur relativer Gewissheit unter anderem im Recht der Gefahrenabwehr nichts Neues. Dort ist geradezu typisch, dass Entscheidungen „ex ante“ ergehen und sich deshalb auch auf prognostische Elemente, also die Einschätzung künftiger Entwicklungen stützen müssen. Das haben auch Gerichte, die „ex post“ entscheiden, also die nachgehende Entwicklung kennen, zu berücksichtigen. Nun sagt uns die Sozialpsychologie, dass die Einschätzung von Risiken sehr unterschiedlich ausfallen kann („Affektivität“). Erst recht ist der Umgang mit Wahrscheinlichkeiten, die sich in Zahlen ausdrücken, ausgesprochen divergent. Ähnliches dürfte für die Beurteilung von statistischen Verläufen gelten, die als Indikatoren für die weitere Entwicklung dienen. Als erfahrbare Faktoren, welche die Zulässigkeit staatlichen Eingreifens bestimmen, kommen vor allem „konkrete Gefahrenlage, Raum und Zeit“ ins Spiel. Die Politik versucht der Unsicherheit durch ein auf den Zeitfaktor setzendes Vorgehen zu begegnen. Ein solches iteratives, also schrittweises, Verfahren kennt man auch aus anderen Zusammenhängen (zum Beispiel beim Medikamenteneinsatz oder bei Strafsanktionen).

Der Vorwurf, es handle sich hierbei um ein Vorgehen „mit wechselnden oder gar fehlenden Maßstäben“, ist falsch: Bei einer Inkubationszeit von 7 bis 14 Tagen kann es nur um ein „Fahren auf Sicht“ im Nebel begrenzter Gewissheiten gehen. Insofern steht jede Maßnahme unter dem „Vorbehalt besseren Wissens“, mit dem sich eine nachfolgende „Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht“ verbindet. Die Suche nach dem rechten Maß wird erschwert durch das sogenannte Präventions-Paradox, das man auch von Impfungen kennt: Erfolgreiche Maßnahmen vermitteln trügerische Sicherheit und sind so zugleich Quelle für voreilige Laxheiten.

Tatsächlich provoziert ein schlichtes Zuwarten oder gar die gezielte „Durchseuchung“ der Bevölkerung geradezu Tote und Schwerkranke. Das grenzt an Zynismus, gleicht „russischem Roulette“ und blendet die grundgesetzliche Schutzpflicht völlig aus. Wo sie praktiziert wurde, wurde sie alsbald wieder aufgegeben.

Dem teilweise experimentellen Charakter entspricht das schrittweise Vorgehen der Eindämmung, das sich auf zeitlich überschaubare Verlaufskontrollen stützt, phasenweise loslässt oder auch wieder anzieht und instrumentell erweitert. Das bleibt nicht ohne Auswirkung auf das weitere Vorgehen und verbindet sich mit der Pflicht zur Beobachtung und Nachsteuerung: Bei absehbar wachsenden Nachteilen besteht eine zunehmende Rechtfertigungslast. Das gebietet es, nach Gefahrenmomenten, Betroffenen-Gruppen und Instrumenten, etwa in Form von Auflagen oder Befristungen, zu differenzieren. Letztere machen deutlich, dass prognostische Entscheidungen typischerweise unter dem Vorbehalt gleichbleibender Verhältnisse und besserer Erkenntnis stehen.

Hier spielt namentlich der sogenannte R-Faktor eine Rolle. Insofern sind Paradigmenwechsel keineswegs ausgeschlossen: Der Shutdown der Frühphase, der alle mit großer Wucht traf, war von breiter Kommunikation und Wissenschaftsberatung begleitet. In der Phase der Lockerung schlug dann die Stunde der unterschiedlichen Betroffenen und Lobbyisten sowie der „Landesfürsten“.

Von Anbeginn hat die Frage der Gleichbehandlung eine Rolle gespielt: Zunächst ging es vor allem um die mögliche Auswahl der zu Behandelnden bei einem Mangel an Intensivbetten oder Beatmungsgeräten. In dramatischer Zuspitzung wurde dies als „Triage“ bezeichnet – ein französischer Begriff aus der Kriegszeit, der „Sortieren“ meint. Diese Frage ist heute im Zusammenhang mit der Coronakrise (anders als in dem speziell geregelten Bereich der Organtransplantation) in den Hintergrund gerückt. Mit der Ausdifferenzierung der Maßnahmen gewann schließlich die Gleichheitsproblematik allgemein an Bedeutung: Schule und Kitas (etwa die Pflicht nur für bestimmte Jahrgangsstufen oder – umgekehrt – eine vorübergehende Schließung für bestimmte Jahrgänge, Notbetreuung in bestimmten Fällen), kundennahe Dienstleistungsbetriebe (wie Friseure, Fitnessstudios, Gaststätten, Hotels), Geschäfte unterschiedlicher Betriebsart und Verkaufsfläche (Lebensmittelhandel, Baumärkte oder Möbelgeschäfte), unterschiedlich geregelte Bewirtungszeiten für Gaststätten und Bars sowie Veranstaltungen aller Art und Größe.

Vor allem bei der Schließung von Geschäften und öffentlichen Einrichtungen spielen in einem Bundesstaat die Landesgrenzen eine besondere Rolle und sorgen vielfach für Unverständnis bei unterschiedlichen Regelungen. Das ist nicht neu und systemimmanent. Gewiss bietet dies dem politischen Führungspersonal auch die reichlich genutzte Gelegenheit zur Profilierung. Aber es fördert vor allem einen Wettbewerb der Ideen und kann als Beispiel für ein „lernendes System“ herhalten. Mögliche Ungleichbehandlungen lassen sich durch Beachtung des länderadressierten Gebots zur gegenseitigen Rücksichtnahme mildern.

Inzwischen haben staatliche Anordnungen zahlreiche Beschwerdeführer auf den Plan gerufen und zu gerichtlichen Entscheidungen geführt. Zu Beginn tat Eile not – das galt auch für gerichtliche Verfahren. Es ist deshalb kein Zufall, wenn die ganz überwiegende Zahl von gerichtlichen Entscheidungen im „einstweiligen Rechtsschutz“ ergangen ist. Solche Entscheidungen beruhen auf einer vorläufigen Einschätzung der Rechtslage durch das Gericht im Rahmen einer eigenständigen Folgenabwägung zwischen Vor- und Nachteilen der angegriffenen Maßnahmen und deren Unterbleiben. Die im Laufe der Zeit zunehmende Ausdifferenzierung der staatlichen Maßnahmen verbindet sich mit einer entsprechenden Zunahme der rechtlichen Anforderungen, die auf größere Differenzierungen im Hinblick auf räumliche Erstreckung, personelle Reichweite oder Eingriffsmodalitäten setzen.

Beispielhaft hierfür stehen zwei Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts Münster: Während das Gericht zunächst einen Antrag abwies, die Kontaktbeschränkungen auszusetzen, die in den Kreisen Gütersloh und Warendorf aus Anlass des im Schlachtbetrieb Tönnies festgestellten Hotspots angeordnet waren, bestand es eine Woche später für die Verlängerung der Kontaktbeschränkungen auf einer an den konkreten Verhältnissen ausgerichteten, örtlich begrenzten Regelung.

Es gibt nur wenige Verfahren, in denen ein Zurückbleiben staatlichen Handelns hinter dem für notwendig erachteten Schutzniveau Gegenstand des Streits war. Das hat nachvollziehbare Gründe: Regelmäßig wird die aktuell spürbare Beschränkung des individuellen Freiheitsraums als belastender empfunden als das Vorenthalten einer bestimmten, zukunftsgerichteten Schutzmaßnahme. Im Übrigen hat das Bundesverfassungsgericht schon früher dem Gesetzgeber einen weiten Spielraum eingeräumt, soweit es um die Erfüllung einer grundrechtlich gebotenen Schutzpflicht geht. Von daher kann nicht überraschen, dass Eltern mit ihrer Klage nicht durchdringen konnten, mit der sie sich gegen die Einschränkung des Schulbetriebes mit dem Argument wandten, der fehlende Präsenzunterricht richte „hohen ökonomischen Schaden“ an, weil ihre Kinder „später am Arbeitsmarkt weniger verdienten“. Nicht mehr Erfolg hatte – in umgekehrter Konstellation – eine elterliche Klage, mit der sie unter Hinweis auf die Infektionsgefahr für ihr Kind ein Aussetzen der Schulpflicht beantragten.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Kurs der Vernunft
Kommentar zum Umgang mit Corona in NRW Kurs der Vernunft
Zum Thema
Aus dem Ressort