Abgesagtes Länderspiel in Hannover Die Nerven liegen blank

Hannover · Das Risiko ist zu groß: Weil er Hinweise auf einen Anschlag hat, lässt Innenminister Thomas de Maizière das Stadion in Hannover evakuieren. Mittendrin: GA-Reporter Guido Hain.

Ein Mann im Zwielicht der Straßenlaternen. Die Arme in die Höhe gestreckt. Regungslos. Mit offenem Mund. Umstellt von sechs vermummten, mit Maschinengewehren bewaffneten Polizisten. Zwei davon visieren den Mann direkt an. Die anderen vier sichern die umliegenden Straßen und die U-Bahnstation Waterloo, mitten in Hannover.

Ganz plötzlich ist sie verschwunden, meine etwas zur Schau gestellte Lässigkeit. Dieses für mich irreale, scheinbar aus irgendeinem Thriller stammende Bild brennt sich ein in meinen Kopf. Zum ersten Mal verspüre ich Angst. Dann der Ruf eines Polizisten: "Verlassen Sie diesen Ort durch die Station." Ich gehe. Zügig, mit weichen Knien, fast laufend. An meiner Seite Journalistenkollegen, die ebenfalls über das Spiel der deutschen Elf gegen die Niederlande berichten sollten. Am anderen Ende der U-Bahn-Unterführung liegt die Fußgängerzone. Mehr Licht, mehr Menschen. Sicherer fühlen wir uns nicht.

Um 19.09 Uhr hatte ich es noch, dieses Gefühl von Sicherheit. Als einer der Ersten, fast alleine, saß ich im weiten Rund der HDI Arena in Hannover. Auf der Pressetribüne, so dachte ich, hätte ich meine Ruhe.

Mein erster Artikel zum Spiel der deutschen Mannschaft gegen die Niederlande musste frühzeitig vor dem Anpfiff raus. Ein Stimmungsbericht rund ums Stadion, in dem die Befindlichkeiten der Fans nach den grausamen Anschlägen in Paris vier Tage zuvor thematisiert werden sollte. Gerade hatte ich die ersten Zeilen geschrieben, schon war es mit der Ruhe vorbei. Völlig unvermittelt. "Bitte verlassen Sie die Tribüne", sagte ein rundlicher Ordner bestimmt, "das Spiel ist abgesagt." Es war 19.13 Uhr.

[kein Linktext vorhanden]Das Gefühl der Sicherheit ist weg. Mit einem Schlag. Auf meine Fragen, was passiert sei, ob irgendetwas in irgendeiner Tasche gefunden worden sei, antwortet der Ordner nicht. Natürlich, er weiß es selbst nicht. Fragen hämmern in meinem Kopf. Kann sich so etwas wie in Paris wiederholen? Ja, das scheint klar: jederzeit. Aber hier in Hannover, mitten in Deutschland, wo in Fragen Sicherheit nach den Paris-Attentaten nichts dem Zufall überlassen werden sollte?

Auch die wenigen Besucher aus dem VIP-Bereich behalten die Ruhe. Was sollte noch passieren? Schließlich glich Hannover schon den ganzen Tag einer Hochsicherheitszone. Hundertschaften der Polizei hatten Präsenz gezeigt, viel mehr, als es vor den grausamen Anschlägen in Paris vier Tage zuvor sonst geplant gewesen wären. Am Bahnhof. Überall in der Innenstadt. Viele trugen Maschinenpistolen. Es gab zunächst keine Kontrollen. Ihre Anwesenheit beruhigte.

Angst? Keine Spur. Ein Anschlag könne doch überall passieren, meint Ralf Walsheim, für ihn habe "der Fußball heute Priorität". Eigens aus dem nordrheinwestfälischen Marl war er nach Hannover gereist, nach dem Spiel wollte er zurück. Er sei auch in Brasilien bei der WM gewesen, "die Polizei und das Militär hatten dort doch auch alles im Griff."

[kein Linktext vorhanden]Alles im Griff. Unzählige Polizeiwagen vor dem Stadion vermittelten das Gefühl von Sicherheit. Beim Einlass wurden selbst akkreditierte Journalisten kontrolliert, abgetastet. Ein Mal, zwei Mal. Beim Eintritt in den Pressebereich wimmelte es von Ordnern und bewaffneten Beamten. Spürhunde schnüffelten Laptoptaschen, Gepäck, Rucksäcke ab. Alles schien okay.

Dann kommt der Ordner zu meinem Presseplatz auf der Tribüne. Und nichts scheint mehr, wie es war. Panik bricht nicht aus. Die meisten sehen keinen Grund dafür. Kollegen, selbst jene, die die Anschläge in Paris aus der Nähe erlebt hatten, sprechen von "Aktionismus". Ich glaube ihnen, dass alles nur heiße Luft sei. Hoffe es.

Die Forderungen der Polizei werden intensiver. Ein Einsatzwagen fährt vorbei, über Lautsprecher ist zu hören: "Alle Personen treten sofort die Heimreise an." Und dann: "Auch die Personen an den Ständen verlassen den Bereich. Umgehend." Langsam wird es mulmig. Sirenengeheul ist zu hören. Sekündlich gibt es neue Meldungen von den Kollegen. U-Bahnhof geschlossen. DFB-Tross auf dem Weg zum Stadion von der Polizei umgeleitet. Wir gehen weiter, Richtung Zentrum. So wie Andreas Rettig, früherer Manager der Deutschen Fußball Liga, so wie Heribert Bruchhagen, Boss von Eintracht Frankfurt. Die offizielle Version: konkrete Gefährdungslage. Aber durch wen?

[kein Linktext vorhanden]Eine Frage kommt hinzu: Sind wir eigentlich Sportreporter oder Kriegsberichterstatter? Plötzlich sickert die Meldung durch, dass ein Sprengsatz in einem Rettungswagen gefunden worden sei. Es hätte passieren können. Und wer war der von den schwer bewaffneten Polizisten umstellte Mann nur wenige Schritte von uns entfernt?

Kurz später wird Innenminister Thomas de Maizière folgende Worte sagen: "Wir sind uns einig, gerade nach dem heutigen Abend, dass wir nicht bereit sind, unsere Lebensweise grundsätzlich zu ändern. Wir wollen ins Bundesligastadion. Wir wollen auf Weihnachtsmärkte. Wir wollen ins Theater gehen. Wir wollen Volksfeste feiern. Und das wird so bleiben."

Doch die Gefahr war ganz nah. Für Hunderte Menschen. Dem schwarzen Freitag ist kein schwarzer Dienstag gefolgt. Im Kopf bleibt dennoch haften: Es hätte einer werden können.

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