Es stand im General-Anzeiger

Sanktionspolitik

Dr. Stresemann sagte: "Heute muß ich zu meinem großen Bedauern sagen, daß, wenn die Kölner Zone nicht geräumt wird, diejenigen unrecht hatten, die für das Dawesche Gutachten stimmten, in der Hoffnung, daß endlich die Sanktionspolitik damit zu Ende sei. Eine Politik, wie sie jetzt in der Frage der Räumung der Kölner Zone begonnen wird, bedeutet aber für das deutsche Volk eine unerwartet und grenzenlose Enttäuschung und schafft eine ernste politische Lage in Deutschland. Die vernünftigen Leute in Deutschland verlieren damit den Boden unter den Füßen und die extremen gewinnen wieder Oberwasser.

Deutschland kann nicht einmal die im Friedensvertrag zugestandene Heeresstärke von 100 000 Mann auffüllen, weil sich niemand mehr fand, der sich für 12 Jahre verpflichten wollte. Deutschland mit seinen 60 Millionen Einwohnern ist so entwaffnet, daß es sich selbst nicht einmal gegen einen Einmarsch Polens oder der Tschecho-Slowakei ernstlich wehren könnte. Wenn trotzdem diese angeblichen Verfehlungen zum Vorwand genommen werden, die Kölner Zone zu räumen, dann kann man sich hier des Eindrucks nicht erwehren, daß wir uns vor dem Wiederbeginn einer Sanktionspolitik befinden. Vor einer solchen Politik kann nicht eindringlich genug gewarnt werden, denn die Vergangenheit hat doch gezeigt, daß nur auf dem Wege der Verhandlungen, niemals aber durch eine Gewaltpolitik eine Einigung erzielt werden könnte. Anstatt des offenen Konflikts dem wir durch eine solche Politik zusteuern, fordern wir Verhandlungen über alle Meinungsverschiedenheiten, Belege über die Ergebnisse der 1800 Kontrollbesuche, damit wir die Vorwürfe unsererseits prüfen können."

Dr. Stresemann erklärte zum Schlusse, er sei überzeugt, man würde auf dem Wege der Verhandlungen sehr schnell zu einer Verständigung gelangen.

Aus dem General-Anzeiger 31. Dezember 1924.

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