Sie bleiben zu Hause Bilanz des Kinojahres 2022 fällt durchwachsen aus

Bonn · Nach zwei schwierigen Kino-Jahren fielen 2022 viele Corona-Einschränkungen weg. Das Publikum kehrt allerdings nur zögerlich zurück, die Krise verschärft sich in manchen Bereichen. Doch es gibt auch Lichtblicke.

Insgesamt 118 Millionen Kinobesucher wurden im vergangenen Jahr gezählt.

Foto: dpa/Oliver Berg

2019 wurden in Deutschland magere 118 Millionen Kinobesuche gezählt - in Frankreich strömten im gleichen Zeitraum etwa 100 Millionen Besucher mehr in die Kinos. Dann kam Covid-19, und als Kollateralschaden diverser Lockdowns eine nie gekannte Kulturfeindlichkeit. Vor allem das ältere Kinopublikum nahm den Slogan „Wir bleiben zu Hause“ offenbar so ernst, dass es auch 2022 nur zögerlich in die Programmkinos zurückkehrte. Daraus resultiert eine Verschärfung der Krise in den Arthouse-Kinos.

Bis auf den Cannes- und „Europäischen Filmpreis“-Gewinner, die grelle Satire „Triangle of Sadness“ von Ruben Östlund, der in Deutschland auf 400.000 Zuschauer zusteuert, gab es viele unverdiente Filmflops. Das deutsche Arthouse-Kinopublikum interessiert sich offenbar immer weniger für ambitionierte Filme. Unter vielen Beispielen kann man „Chiara“ nennen, der aus der Sicht einer 15-Jährigen meisterhaft über familiäre Mafiastrukturen erzählt und vom kinofreundlichsten Streamingdienst „Mubi“ auch in die Kinos gebracht wurde. Doch dafür interessierten sich in Deutschland nicht einmal 2.000 Menschen.

Die Liste der gefloppten Filme ist für die betroffenen Verleiher und Filmschaffenden deprimierend. Besonders bitter traf es Hans-Christian Schmid in seinem ersten Kinofilm seit elf Jahren. „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ erzählt konsequent, behutsam und überzeugend aus der Sicht des Sohnes von der Entführung von Jan Philipp Reemtsma. Nur etwa 10.000 Zuschauerinnen und Zuschauer waren bereit, sich auf diese andere Täter-Opfer-Geschichte einzulassen.

Doch liegt der Besucherschwund wirklich nur an Corona-Angst oder an den Streaming-Diensten? Darüber hinaus scheint Kino nicht mehr sexy zu sein. Viele Tageszeitungen haben ihre Kinoseiten aufgegeben, berichten stattdessen über Serienevents wie „Der Herr der Ringe - Die Ringe der Macht“ oder das „Game of Thrones“-Prequel „House of the Dragon“. Außerdem fehlt es an Werbung auf Litfaßsäulen, in U- oder S-Bahnhöfen. Der Mangel an Kinoplakaten fällt besonders im Vergleich zu Frankreich auf; in der Pariser Metro sieht man gefühlt mehr klassische Kinowerbung mit überdimensionalen Postern, als wohl in ganz Deutschland insgesamt plakatiert werden.

Hinzu kommt viel Streit, etwa rund um das erste deutsche Kinofest im September. Nicht alle zogen mit; einige Arthouse-Kinos boykottierten das Event sogar. Für 2023 wäre zu wünschen, dass die Branche mehr zusammen- als gegeneinander arbeitet.

„Rheingold“ wird zum Kassenschlager

Bei den kommerziellen Erfolgsfilmen thront in Deutschland das familienaffine „Minions“-Sequel mit soliden 4,15 Millionen Kinozuschauern auf dem ersten Platz. In USA, Großbritannien und Frankreich steht „Top Gun Maverick“ an der Spitze. Das grundkonservative, auch leicht altmodische Sequel ist spannend inszeniert und recht unterhaltsam - und vermochte gleich mehrere Generationen zurück ins Kino zu locken.

Unterdessen avancierte Fatih Akins „Rheingold“ zum zweitgrößten Kassenschlager des Hamburger Regisseurs, der als einer der wenigen deutschen Filmemacher auch international bekannt ist. Fast eine Million Menschen sahen diese im deutschen Film einmalige Mischung aus Gangster- und Rapperfilm. Der rasant erzählte Film verherrlicht zwar einen Macho-Helden, ist aber großes Kino und nicht so frauenfeindlich, wie einige Kritiker meinten. In den Arthouse-Kinos traute man sich allerdings kaum, den Film einzusetzen, der ein jüngeres Publikum anzog, das sonst eher wenig ins Kino geht.

Generell war es kein schlechtes Jahr für das deutsche Kino, auch wenn es international weiter unter dem Radar bleibt. Zu den besten Filmen gehören nicht nur Andreas Dresens humorvolle Aufarbeitung des Justizskandals um Murat Kurnaz in „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“, sondern auch das originelle Drama „Der Passfälscher“ von Maggie Peren.

International liegen die deutschen Oscar-Hoffnungen nach der Nominierung von „Im Westen nichts Neues“ nun auf einer Netflix-Produktion, die auch kurz im Kino lief. Der Kriegsfilm von Edward Berger verdeutlicht die Sinnlosigkeit des Krieges in drastisch-naturalistischen Bildern. Allerdings nutzt der Regisseur hier eher den breiten Pinsel. Seine Neuverfilmung bleibt ein Männer- und Kriegsfilm und setzt auf bildgewaltige, epische Schlachtenszenen. Diese technische Fertigkeit mag dem Werk bei den Oscars durchaus dienlich sein, zumal die frühere US-amerikanische Verfilmung des berühmten Romans von Erich Maria Remarque 1930 ja schon den Hauptpreis gewonnen hatte.

Neben Blockbustern und den wenigen Erfolgen aus dem Arthouse-Bereich fehlt dem Kino aber generell vor allem die „Mittelware“, das klassische Erzählkino. „Mittagsstunde“ von Lars Jessen war eine erfreuliche Ausnahme mit einem wunderbar stoischen Charly Hübner, der in sein plattdeutsches Heimatdorf zurückkehrt. In den USA werden solche Filme mit mittlerem Budget kaum noch produziert, sieht man einmal von der Bestseller-Verfilmung „Der Gesang der Flusskrebse“ ab.

Wie sehr dieses Genre fehlt, wurde vor allem bei „Coda“ deutlich. Das originelle US-Remake der französischen Erfolgskomödie „Verstehen Sie die Beliers?“ gewann überraschend den Oscar als Bester Film. Produziert von Apple+, erhielt der Film indes nie einen deutschen Kinostart.

Wie vital Kino immer noch sein kann, bewies trotz erheblicher Einbußen einmal mehr der französische Markt. 2022 kauften etwa 135 Millionen Französinnen und Franzosen eine Kinokarte, was einen Schnitt von 2,07 Tickets pro Einwohner bedeutet. In Deutschland hofft man, dass es mit dem Jahresendspurt dank „Avatar 2“ am Ende 70 Millionen Tickets werden - statistisch entspräche dies mageren 0,85 Kinobesuchen pro Kopf.

(kna)