Eine Zahl weist den Weg "Dodeca-Reise" vom Münster bis zum Venusberg

BONN · Niemand bewegt sich, es ist völlig ruhig. Unangenehm lange und noch länger, bis es fast wieder angenehm ist. Nach Minuten wird die Stille unterbrochen. Der Vorbeter singt: "Dein Wort ist Licht und Wahrheit." Die Gemeinde stimmt ein. Es ist Mittagsgebet im Bonner Münster.

Die Stille gehört dazu, eine Auszeit vom hektischen Alltag. Eine Viertelstunde der intensiven Stille, die mich berührt - obwohl ich mit dem Thema Kirche sonst wenig anfangen kann. Ich bin nur aus einem Grund gekommen. Wegen der Uhrzeit, zu der dieser kurze Gottesdienst beginnt: punkt Zwölf.

Die Zwölf ist eine besondere Zahl. Jesus hatte zwölf Apostel, ein Jahr hat zwölf Monate, für Mathematiker ist die Zwölf eine von nur zwei "erhabenen Zahlen" - die andere hat 76 Ziffern. Das Dutzend war einst die gängigste Maßeinheit, unsere Zeitmessung basiert noch immer auf der Zwölf, der zwölfte Mann hat schon manches Fußballspiel entschieden. "Dodeca" heißt zwölf auf griechisch. Deshalb taufe ich meinen Bonn-Trip "Dodeca-Reise".

Wer einmal nach Zwölfen sucht, findet sie überall: Von den 64 Bahnhaltestellen in Bonn sind zwölf U-Bahnhöfe. Bonn wurde im 12. Jahrhundert von zwölf Schöffen regiert. Von Ost nach West erstreckt sich Bonn ziemlich genau über zwölf Kilometer.

Wegen des Zwölf-Uhr-Geläuts sitze ich nun im Bonner Münster (übrigens sind wir zu zwölft). Das sogenannte Angelusläuten ruft die Menschen zum Mittagsgebet.

Manche Besucher - wie ich - lassen sich spontan darauf ein, andere kommen regelmäßig. Wer oft da ist, darf ehrenamtlich mithelfen. So wie Stephan Masseling. Der 30-Jährige stimmt als Vorbeter die Strophen an, die Psalme hallen klar durch die hohe Kuppel des Münsters. Er intoniert den Segen. "Singet Lob und Preis", das "Singet" gedehnt, die Stimme gesenkt beim "und". Wir antworten "Dank sei Gott, dem Herrn". Dann trete ich aus dem Portal ins Freie. Der Bonner Alltag hat mich wieder.

Meine nächste Zwölf ist eine Hausnummer. Und nicht irgendeine: Willy Brandt hat als Bundeskanzler im Kiefernweg 12 gewohnt. Also fahre ich mit dem Bus den Venusberg hinauf, spaziere an Einfamilienhäusern entlang und finde die weiße Villa mit der Hausnummer 12. Sie steht frei, grenzt direkt an den Park, mit einer eigenen Zufahrtstraße. Um das Haus herum ist alles saftig grün. Schön hat er gewohnt, der Herr Brandt! Heute ist die Villa offenbar in zwei Privatwohnungen aufgeteilt. Leider ist niemand da, der mir sagen könnte, wie es sich anfühlt, im ehemaligen Heim eines großen Staatsmannes zu residieren.

Ich laufe den Venusberg hinunter, durchquere ein Waldstück. Die Bäume lichten sich, und ich blicke auf Bonn hinab. Das Wetter klart gerade etwas auf, der Blick vom Venusberg ist das beste Bonn-Panorama, das ich bisher gesehen habe. Dank der Tour zur Brandt-Villa komme ich zu einem Spaziergang, den ich so wohl in keinem Reiseführer gefunden hätte.

Als nächstes suche ich eine Zwölf zum jüngeren politischen Bonn. Also spaziere ich zum Haus der Geschichte der Bundesrepublik. Dort beginnt der "Weg der Demokratie". Und die kleine Runde hat - als wäre sie für mich gemacht - zwölf Stationen.

Ich wandere an Bundesrat und Bundestag vorbei, an der Bundespressekonferenz und dem Bundeskanzleramt. Ich lese die Schilder dieser Stationen und lerne, dass das Palais Schaumburg immer noch offizieller Dienstsitz des Bundeskanzlers ist.

Dann stehe ich am Rheinufer und blicke auf den fernen Petersberg, wo im gleichnamigen Gästehaus Staatsgäste aus aller Welt wohnten. Die Aussicht auf den Hügel ist Station Nummer zwölf.

Auch hier ist es still. Wie schon häufig an diesem Tag. Von Gebetsstimmung bis Waldspaziergang - die Zwölf hat mich auf eine recht ruhige Tour durch Bonn geschickt. Gleichzeitig eine kräftezehrende: Ich bin hungrig.

Weil Chinesisch die zwölfthäufigste Muttersprache in Bonn ist, beschließe ich, bei "Nishas Wokmobil" zu essen, das auf dem Wochenmarkt steht. Ich bestelle die Nummer zwölf und bekomme ein Kartoffel-Reis-Kohlrabi-Curry. Wie sich herausstellt, deutet das Wort "Wok" allerdings nicht zwangsläufig auf China hin: Die Inhaberin Nishanthi Perera kommt aus Sri Lanka und kocht ayurvedisch. Damit habe ich mich zwar um knappe 5000 Kilometer vertan. Aber dafür weiß ich jetzt, dass ayurvedisches Curry leicht scharf schmeckt. Und sehr lecker.

Von Köln nach Bonn: Studenten der Kölner Journalistenschule sind für den General-Anzeiger in Bonn und der Region unterwegs. In lockerer Folge stellen wir ihre Sommer-Reportagen vor.

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