Ein kleines Land groß im Netz

Estland: Hinter den mittelalterlichen Fassaden boomt die Kommunikationstechnik - Artikel des Bonner Carl-von-Ossietzky-Gymnasiums, Klasse 8a

Ein kleines Land groß im Netz
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Bonn. Vor einem halben Jahr habe ich Jüri-Karl kennengelernt. Er ist 14 Jahre alt, lebt in Estland und lernt seit zwei Jahren Deutsch. Weil unsere Eltern sich kennen, haben wir Kontakt. Beim Chatten beherrscht er perfekt Englisch, kann mir anscheinend jede Frage zum Allgemeinwissen beantworten und ist bei technischen Neuheiten auf dem aktuellsten Stand.

Irgendwann erhielt ich die Erklärung für seine umfangreichen Kenntnisse: Jüri-Karl nutzt ein estnisches Schulportal. Es heißt eKool, was übersetzt so viel wie "E-Schule" bedeutet, und ist ein Kommunikationsprogramm für Schüler, Lehrer und Eltern, welches erlaubt, Schulinformationen von zu Hause aus abzufragen.

Man kann nicht nur Informationen zu sämtlichen Themen finden, sondern zum Beispiel seine Noten, Stundeninhalte und Hausaufgaben erfragen. Nicht nur Jüri-Karls Schule benutzt das Programm, inzwischen wird es neben 220 estnischen Schulen auch schon in Deutschland und Indien getestet.

High-Tech bestimmt inzwischen in vielen Gebieten den estnischen Alltag und dient den großen EU-Staaten als Vorbild. Jüri-Karl kann sich denken, warum das so ist: Estland wurde jahrhundertelang unterdrückt.

Es hatte bis 1991 nur eine einzige Phase der Unabhängigkeit erlebt, von 1918 bis 1940. Das kleine Land bewahrte sich dennoch die eigene Kultur und Sprache. Es zählt nur 1,3 Millionen Einwohner, davon sind rund 400 000 Russen. Seit 2004 gehört Estland der Europäischen Union an.

Ein großes Problem für das Land ist seine geografische Lage. Von Russland umgeben, mussten Wege gefunden werden, um den Kontakt zum Westen zu verbessern. Deshalb war es viel attraktiver und billiger, ein gutes Mobilfunknetz aufzubauen, als das bestehende ehemals sowjetische Festnetz zu erweitern.

So haben viele Esten auch heute gar keinen Festnetzanschluss, sondern eher mehrere Handys. Die Anzahl der Handys ist der Einwohnerzahl Estlands sogar inzwischen überlegen. Die Esten können aber nicht nur mobil telefonieren und SMS verschicken.

Überaus kostengünstig können sie per Handy im Internet surfen, Bustickets vorzeigen und Parkgebühren bezahlen. Ständig werden die Angebote erweitert. Schon jetzt ist vieles, was bei uns nur der Computer bietet, in Estland per Handy möglich. So weiß ich manchmal gar nicht, ob Jüri-Karl zu Hause vor seinem Computer oder unterwegs über Handy mit mir chattet.

Ein zusätzliches System funktioniert über die so genannten ID-Karten. Das sind Personalausweise mit Zusatzfunktionen, hat Jüri-Karl mir erzählt. Es befinden sich Führerschein und andere persönliche Daten auf der Karte, die es dem Besitzer sogar ermöglichen öffentliche elektronische Dienstleistungen, wie zum Beispiel Bankgeschäfte oder Wahlen im Internet zu nutzen.

Die Informationen auf der Karte können von vielen Lesegeräten abgerufen werden. Polizisten zum Beispiel können damit in kürzester Zeit Autozulassung und Führerschein überprüfen. Außerdem soll die ID-Karte so gut wie unkopier- und entschlüsselbar sein. Ohne Kenntnis der persönlichen PIN-Nummer ist die Karte nutzlos.

Natürlich bietet auch das Internet vielfältige Angebote. 30 000 Esten gaben bei der Parlamentswahl im Frühjahr ihre Stimme online ab. Kein Wunder: das Land stellt mehr als 700 kostenlose öffentliche Internet-Punkte zur Verfügung. Surfen ist fast überall möglich, sogar im Auto.

Ob über den Bordcomputer, per Handy oder Laptop: Über das so genannte Codemultiplexverfahren ist es auch auf der Fahrt möglich, immer online zu sein. Aber damit noch nicht genug: Die estnischen E-Bankingfunktionen sind Vorbild für Online-Angebote anderer europäischer Banken, und auch die weltweit erfolgreichste Telefonie- und Onlinesoftware Skype (Videounterhaltung) kommt aus Estland.

Trotz aller Liebe zum Fortschritt beschäftigen sich die Esten aber auch intensiv mit ihrer Vergangenheit. Kurz nach der sowjetischen Besetzung 1939 musste etwa jeder fünfte Este seine Heimat verlassen. Viele flohen über das Meer ins Ausland, andere wurden nach Sibirien verschleppt, darunter viele angesehene und erfolgreiche Persönlichkeiten.

Ganze Familien, sogar Kinder, starben auf dem Weg oder gingen später in Arbeitskolonien zugrunde. Auch Jüri-Karl hat Angehörige, die so ums Leben kamen und weiß deshalb, wie wichtig es ist, immer gut informiert zu sein und Kontakte in den Westen zu haben.

Die Freundschaft gerade zu Deutschland hat Tradition: Eine deutsche Oberschicht, der so genannte baltische Adel, lebte bis 1939 in Estland, so dass auch heute noch Kontakte nach Deutschland gepflegt werden. Und dieser deutsch-estnischen Freundschaft verdankt Jüri-Karl vielleicht den deutschen Teil seines Namens und ich meine spannende Brieffreundschaft.

Carl-von-Ossietzky-Gymnasium, Klasse 8a

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