Kultur - Das Entsetzliche wird Klang

Arnold Schönbergs "Der Überlebende aus Warschau"

Als Arnold Schönberg mit der Komposition des "Überlebenden aus Warschau" begann, hatte er zwei existentielle Erfahrungen hinter sich. Am 2. August 1946 erlitt er in seinem kalifornischen Exil einen schweren Herzinfarkt und konnte nur durch eine Adrenalin-Injektion direkt ins Herz gerettet werden. In den folgenden Monaten kam die Erschütterung über das Greuel der Naziverbrechen hinzu, deren Ausmaß und Ungeheuerlichkeit erst in jenen Monaten bekannt wurden. Den unmittelbaren Schock über seinen eigenen "Todesfall", wie Schönberg seinen Infarkt nannte, hatte er zwar in seinem expressiven Streichtrio op. 45 zu verarbeiten versucht, doch die schwere körperliche Krise dürfte auch in dem "Überlebenden" noch nachgewirkt haben, der als Auftragswerk der "Koussevitzky Foundation" in wenigen Tagen zwischen dem 11. und 23. August 1947 entstand.

Uraufgeführt wurde "Der Überlebende aus Warschau" 1948 in Alberquerque (New Mexico) durch Kurt Frederick. Wichtiger war freilich die europäische Erstaufführung des op. 46 am 15. November 1949 in Paris durch den Dirigenten und Schönberg-Schüler René Leibowitz, der sich überhaupt stark für das Werk seines Lehrers einsetzte und für den mittlerweile augenschwachen Komponisten die Reinschrift der Partitur besorgt hatte.

Die Pariser Aufführung, die auch im Rundfunk übertragen wurde, erschütterte die Menschen. Leibowitz erzählte später, daß ein Zuhörer ihm gesagt habe: "Man hat ganze Bände, lange Aufsätze, viele Artikel über diese Probleme geschrieben, aber Schönberg hat in acht Minuten weit mehr ausgedrückt, als es bis jetzt irgend jemand vermocht hat."

Dem für Sprecher, Männerchor und Orchester geschriebenen Werk liegt der Bericht eines polnischen Juden über das Massaker im Warschauer Ghetto zugrunde. Schönberg schuf dazu eine schockierende, illustrative Musik, die trotz ihrer streng zwölftönigen Anlage nichts mehr gemein hat mit seiner früheren l'art pour l'art-Ästhetik. Hier bricht die grauenhafte Realität erstmals brutal in seine Musik ein, was neben den grellen Orchesterfarben auch an der Behandlung der Sprache deutlich wird. Der originale Bericht wird in Englisch wiedergegeben, die Befehle des Feldwebels werden in hartem Deutsch zitiert. Eine dritte sprachliche Ebene hat Schönberg mit dem Shema Yisroel eingeführt, das die Juden auf dem Weg in die Vernichtungslager singen.

In der jüngeren Vergangenheit hat der Dirigent Michael Gielen mit dem Werk für Aufsehen gesorgt, als er es 1978 in Frankfurt auf eine für das Publikum höchst irritierende Weise ins Programm aufnahm: Er schaltete es an Stelle der berühmten Fanfaren vor den Finalsatz aus Beethovens neunter Sinfonie, um dem Satzbeginn seinen ursprünglichen Schrecken zurückzugeben. In seinem Programmheftbeitrag schrieb Gielen damals: "Das wirklich Entsetzliche zu hören, macht den Weg frei zum Verstehen, wie die Brüderlichkeit (mehr als die Freiheit oder die Gleichheit) hätte sein müssen, damit es nicht zu diesem Horror kommt. Durch den Überlebenden wird die Fanfare wieder als das gehört, was sie ist." Er wollte damit ganz im Sinne von Horkheimer/Adornos "Dialektik der Aufklärung" auch den Gang der Geschichte nachvollziehen, der danach von den Ideen der Französischen Revolution in letzter Konsequenz nach Auschwitz und Warschau führte.

Michael Gielen war die Idee der Montage immerhin so wichtig, daß er das Konzert als einziges zum Abschied von seiner Frankfurter Zeit nach fast zehn Jahren noch einmal wiederholte. Und noch vor drei Jahren sagte Gielen: "Die Zerrissenheit und die Verzweiflung in den größten Werken des 20. Jahrhunderts wurzeln in der Perversion und dem Scheitern des deutschen Idealismus. Das wird geradezu körperlich erfahrbar, wenn die Ode an die Freude neben den Überlebenden gestellt wird." Es gab freilich auch immer kritische Stimmen, die sich vor allem daran rieben, daß nach dem religiösen Gesang des Shema Yisroel der Bariton anhebt: "O Freunde, nicht diese Töne!"

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