Kultur - Der Herr der Diagramme

Karlheinz Stockhausens "Studie II" überläßt nichts dem Zufall

Karlheinz Stockhausen ist ein Komponist, dessen Werk auf radikalen Gegensätzen aufbaut. Er hat stets zugleich das Atom und den Kosmos vor Augen. Bestes Beispiel dafür ist sein aktuelles Werk: Der gesamte, auf sieben Tage angelegte Opernzyklus "Licht", an dem der in Mödrath bei Köln geborene Komponist seit mehr als 20 Jahren arbeitet, beruht auf nur einer Superformel als musikalischer Keimzelle und hat nichts weniger als die gesamte Schöpfung zum Inhalt. Von solchen extremen Polen, die gleichsam eine strukturelle Klammerfunktion erfüllen, wird Stockhausens musikalisches Denken von Beginn an beherrscht, sowohl in den Werken mit traditionellen Instrumentarium als auch in seiner elektronischen Musik. So beruht die 1954 entstandene Studie II auf dem Kontrast zwischen dem obertonfreien Sinuston, der auf einem Oszillographen als sinusförmige Kurve erscheint, auf der einen und dem "weißen Rauschen" als dem Zusammenklang unendlich vieler Schwingungskurven auf der anderen Seite.

Stockhausen war schon sehr früh zu einem der führenden Protagonisten der elektronischen Musik geworden. Als er 1951 erstmals die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik besuchte, begegnete er dort zwei Pionieren dieser Musikrichtung, die über die Möglichkeiten synthetisch erzeugter Klänge referierten. Neben Werner Meyer-Eppler, der am Phonetischen Institut der Bonner Universität die wissenschaftlichen Grundlagen geschaffen hatte, war dies vor allem der Komponist und Musikwissenschaftler Herbert Eimert, der Leiter des im selben Jahr gegründeten Studios für Elektronische Musik beim Westdeutschen Rundfunk in Köln.

Stockhausen erkannte sofort, daß die elektronische Musik ein enormes Potential für ihn bereitstellte. Denn in seinen früheren Kompositionen war er schon bald auf Grenzen gestoßen, die traditionelle Instrumente und deren Interpreten seiner Idee einer nichts mehr dem Zufall überlassenden Durchkonstruktion aller musikalischen Parameter setzten. Mit elektronisch erzeugten Klängen ließen sich Tonhöhen und Lautstärken exakt bestimmen - mit Hilfe der Elektronik konnte Stockhausen die serielle Musik gleichsam unter Laborbedingungen herstellen. Als Herbert Eimert ihn 1953 als ständigen Mitarbeiter an das Studio für elektronische Musik in Köln berief, stellte Stockhausen noch im selben jahr seine Studie I vor, im darauffolgenden Jahr die Studie II, die längst ein Klassiker der elektronischen Musik geworden ist. Während Stockhausen in seiner ersten Studie Klänge produziert, die sich durch die Überlagerung ganzzahliger Frequenzproportionen noch an instrumentalen Klangfarben orientieren, emanzipiert er sich in der zweiten Studie gänzlich von solchen Anlehnungen. Er legt diesem Werk das "weiße Rauschen" gleichsam als Folie zugrunde und erhält die musikalische Struktur, indem er Klangfilter einsetzt, die das weiße Rauschen in "farbiges Rauschen" zerlegen - ähnlich wie Glasprismen das weiße Tageslicht in sämtliche Regenbogenfarben auffächern. Dabei wird alles genau festgelegt, jede Frequenz, jeder Zeitwert, jeder Lautstärkewert. Die Partitur enthält keine Noten mehr, sondern besteht aus minuziös aufgezeichneten Diagrammen. Der Komponist ist damit natürlich absoluter Herr über sein Werk: Einen Interpreten braucht es nicht.

"Seit 1952 habe ich versucht", schrieb Stockhausen einmal, "weder bekannte Rhythmen noch Melodien noch harmonische Kombinationen noch Figuren zu komponieren; also alles zu vermeiden, was bekannt, allgemein bekannt ist oder an bereits komponierte Musik erinnert. Ich wollte quasi eine Musik exnihilo schaffen". Das ist ihm mit den Studien I und II sicher gelungen. Dennoch hat Stockhausen, der 1963 Eimert als Leiter des Elektronischen Studios ablöste, in den folgenden Jahren auch immer wieder für traditionelle Instrumente und Stimmen geschrieben. Bei der Aufführung seiner Werke ist sein Platz freilich noch immer häufiger am Misch- als am Dirigentenpult.

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