Londons Kulturprogramm ist einfach "outstanding"
Kingston, Großbritannien - Familie Radermacher genießt das aufregende Leben in der britischen Metropole - Schmacht nach Reibekuchen, Matjes, weißem Spargel und den "kleinen Muffendorfer Krauser"
Wir leben nunmehr seit zweieinhalb Jahren in Kingston, einer Kleinstadt vor den Toren Londons. Zuvor hatten wir uns zwanzig Jahre lang in der provinziellen Metropole Bonn mit ihrem leicht internationalen Flair sehr wohlgefühlt. Unser Haus ist nicht weit vom Richmond Park gelegen, dessen Wiesen, Bäume und Hirschrudel uns immer wieder anziehen.
London ist eine aufregende Stadt. Für junge Leute ist sie wegen ihres vielfältigen Kulturangebots wohl die interessanteste Stadt Europas. Wir befinden uns bereits in einem etwas fortgeschrittenen Alter und halten uns daher mehr an den klassischen Teil des Kulturprogramms, dessen Umfang, Qualität aber auch Kosten "outstanding" sind, wie man hier sagt.
Unsere 8-jährige Tochter Rebecca besucht die Deutsche Schule London, eine in einem themsenahen Parkgelände gelegene Schule, die mehr bietet als Unterricht für die Kinder. Sie ist zugleich Informations- und Kulturzentrum, sowie ein Ort für viele Feste der deutschen Gemeinde im Süd-Westen Londons, die enge Kontakte pflegt.
Mehr noch als London lieben wir aber die englischen Landschaften, die wir in den letzten beiden Jahren intensiv bereist haben. England ist ein wunderschönes Reiseland, dessen Wetter im Durchschnitt nicht schlechter ist, als wir es von Bonn gewöhnt sind. Was man unbedingt zum Reisen braucht, ist ein Picknick-Korb. Nur mit einem englischen Picknick-Korb werden "die Oper auf dem Lande" in Glyndborne und der wunderschöne Landschaftspark von Blenheim Palace unvergessliche Erlebnisse. Höchst angenehm für deutsche Touristen in England ist die vorzügliche "Bed and Breakfast Kultur", wobei wir immer wieder davon überrascht sind, wieviele Engländer ihre wunderschön eingerichteten Wohnhäuser - oft mit Antiquitäten - mit Fremden teilen. Wenn man die vielen Schlösser und Landhäuser mit ihrem in der Regel gut erhaltenen Inventar besichtigt, wird einem nicht nur der Reichtum früherer englischer Generationen bewusst, sondern auch der Vorteil, der damit verbunden ist, wenn ein Land 300 Jahre von einem Landkrieg verschont wurde.
Was vermisst man? Natürlich die Freunde. Aber auch die kleinen Dinge: Reibekuchen, Matjes, weißer Spargel und den nußigen "kleinen Muffendorfer Krauser". Gott sei Dank bringen gute Freunde diese Dinge gelegentlich als Geschenk mit oder schicken Carepakete.
Was ist schwer zu verstehen? Dass englische Regierungen über Jahrzehnte hinweg so wenig in die öffentliche Infrastruktur, das Gesundheitswesen und den Bildungssektor investieren konnten, ohne dass es zu landesweiten generellen Protesten gekommen ist. Ein öffentliches Personennahverkehrssystem, das in seinem technischen Zustand und Benutzerkomfort dem internationalen Standard der 50-iger Jahre entspricht, öffentliche Krankenhäuser mit Bettensälen für 16 Personen und öffentliche Schulen, deren Ausbildungsqualität verantwortungsbewusste Eltern selbst dann zur Wahl von Privatschulunterricht für ihre Kinder veranlasst, wenn sie sich dies finanziell eigentlich nicht leisten können, werden von der Mehrheit der englischen Gesellschaft akzeptiert. Die Bürger misstrauen offensichtlich der Finanzierung von zentralen öffentlichen Dienstleistungen durch Steuermittel zutiefst.
Wenn man in England lebt, bewundert man die Höflichkeit der Menschen im zwischenmenschlichen Umgang. Bitte und Danke sind Worte, die man weltweit wohl nirgendwo so häufig hört, wie in England. Im öffentlichen Bereich ist diese Höflichkeit zudem sehr hilfreich, um das unzulängliche Funktionieren des öffentlichen Dienstleistungssystems einigermaßen erträglich zu machen.
Beeindruckend für viele Deutsche ist die erstmalige Bekanntschaft mit dem ausgeprägten englischen Patriotismus. Dieser zeigt sich nicht nur bei der "Last Night of the Proms", wenn alle Konzertbesucher hingebungsvoll "Rule Britannia" mitsingen. Unangenehm ist jedoch die übersteigerte nationalistische Form hiervon, die immer wieder auch Vorurteile und Abneigungen gegenüber Ausländern zum Ausdruck bringt. Diese findet man besonders häufig in den Massenblättern, deren Qualität vergleichbare deutsche Presseorgane als Purlitzerpreis-verdächtig erscheinen lässt. Daher kann man auch die Freude verstehen, die aus den Gesängen der rund 7 000 Deutschen im Wembley Stadion herauszuhören war, als die deutsche Fußballmannschaft mit einem 1:0 Sieg über England ihren Neuaufbau einleitete.
Zugleich waren aber auch die deutschen Stadionbesucher traurig darüber, dass das ehrwürdige Wembley Stadion nach über 70-jährigem Bestehen der Abrissbirne übergeben wurde. Dieser Abriss ist auch ein anschauliches Beispiel für den unverkrampften Umgang der angeblich so traditionsbewussten Engländer mit altehrwürdigem Dingen.
Wir freuen uns auf Weihnachten, das auch in England ein ausgesprochenes Familienfest ist, jedoch mit weniger Emotionen beladen. Man lädt auch Freund und Nachbarn zu einem Drink ein und empfängt sie mit Pappnasen und lustigen Hütchen. Den Weihnachtsbaum, der von Prinz Albert vor rund 150 Jahren in England eingeführt wurde, werden wir auch dieses Jahr wieder in der Nähe des alten rustikalen Pubs "Prince of Wales" kaufen, dessen prasselndes Kaminfeuer uns jedes Jahr in den Bann zieht.
Dieses Jahr findet zum ersten Mal in Covent Garden ein deutscher Weihnachtsmarkt mit Glühwein und handwerklichen Erzeugnissen statt. Daher werden wir möglicherweise den schönen Bonner Weihnachtsmarkt weniger vermissen als in den Vorjahren.