Analyse Mauern hoch - Staaten pochen bei Migration auf Souveränität

Berlin · Der Wind hat sich gedreht. Auch gegen eine international geregelte Migration aus den ärmeren Staaten der Welt mit oft schnell wachsenden Bevölkerungen gibt es nun Widerstände. Dass Österreich als EU-Ratsvorsitzender aus dem UN-Migrationspakt aussteigt, ist nur ein Beispiel.

 Eine Mutter geht in der von Dürre und Hunger geplagten Somali-Region mit ihren Kindern durch ein Flüchtlingsdorf.

Eine Mutter geht in der von Dürre und Hunger geplagten Somali-Region mit ihren Kindern durch ein Flüchtlingsdorf.

Foto: Kay Nietfeld/Archiv

Kriege, Klimawandel, Wirtschaftskrisen: Die Migrationswellen der letzten Jahre könnten der Auftakt für große Wanderungsbewegungen sein, fürchten Experten.

So warnt der Chef des Welternährungsprogramms (WFP), David Beasley, vor einem "maximalen Sturm", der sich in der größeren Sahel-Region zusammenbraue. Beispiel Nigeria, eines der ärmsten Länder der Welt: Dort gebären Frauen im Durchschnitt 7,5 Kinder - die weltweit höchste Geburtenrate. Die Bevölkerung soll sich nach UN-Prognosen von derzeit 185 Millionen Menschen bis 2100 auf 914 Millionen mehr als vervierfachen.

Mit einem UN-Migrationspakt wollen die Vereinten Nationen einen Baustein zur Lösung des Megathemas Migration liefern. Gegen die ungeregelten Wanderungsbewegungen der letzten Jahre, die in der EU von einem Aufschwung rechtsnationaler und populistischer Parteien begleitet wurden, soll ein Regelwerk gestellt werden, das Flucht und Migration besser organisiert, ohne rechtlich verbindlich zu sein. Die Widerstände wichtiger Staaten sind aber enorm, und die praktische Umsetzung hat noch nicht einmal begonnen.

Nach den USA, Ungarn und Australien hat auch Österreich erklärt, sich aus dem Migrationspakt zurückzuziehen. Die Regierung in Wien, die derzeit den EU-Ratsvorsitz innehat, begründeten dies mit der Sorge, dass Österreich bei einer Unterzeichnung nicht mehr selbst bestimmen könne, wer ins Land kommen dürfe. Außerdem drohe eine Vermischung von legaler und illegaler Migration, von Arbeitsmigration und Asyl, sagt Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP). Er kritisiert auch ein Verbot von Massenabschiebungen.

Auch die US-Regierung sieht einen Eingriff in die eigene Souveränität. Schon im Dezember erklärte die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Nikki Haley, "unsere Entscheidungen über Einwanderungspolitik müssen immer von Amerikanern getroffen werden, und nur von Amerikanern". Zur Abschreckung Tausender Migranten aus Mittelamerika kündigte US-Präsident Donald Trump an, dass zwischen 10.000 und 15.000 Soldaten an der Grenze zu Mexiko stationiert werden könnten.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ist für den Pakt. Es passt zu ihrem Kurs, nach der deutschen Willkommenskultur und der Flüchtlingskrise nun den Weg zurück zu einer Ordnung zu finden, die andere EU-Länder einbindet. Doch ist sie damit in den vergangenen Jahren nicht entscheidend vorangekommen. Nun ist Merkel politisch auf dem Rückzug.

Der UN-Migrationspakt soll am 10. und 11. Dezember in Marokko unterzeichnet werden. Das Dokument richtet Forderungen an Herkunfts- und Aufnahmeländer. Geplant sind Maßnahmen gegen Identitätsbetrug, eine Verbesserung der Lebensbedingungen in den Herkunftsländern und ein Schutz der Migranten vor Ausbeutung.

Zudem sollen Migranten beim Bezug von Unterstützungsleistungen nicht benachteiligt werden und vollständig in Gesellschaften eingegliedert werden. In den Aufnahmeländern sollen Bedingungen geschaffen werden, die es Migranten erlauben, "unsere Gesellschaften mit ihren humanen, wirtschaftlichen und sozialen Fähigkeiten zu bereichern". Rettungseinsätze wollen die UN international besser koordinieren, "um den Tod und die Verletzung von Migranten zu verhindern".

Das betrifft auch die Lage im Mittelmeer, zuletzt Hauptroute für Flüchtlinge nach Europa. Die im Jahr 2015 begonnenen Einsätze privater Rettungsschiffe vor der Küste Nordafrikas sind praktisch zum Erliegen gekommen. So liegt das Rettungsschiff "Aquarius 2" im Hafen von Marseille an der Kette, nachdem Panama das Rettungsschiff aus seinem Schiffsregister gestrichen hat.

Erheblicher Druck der neuen italienischen Regierung und das Schweigen anderer Staaten zeigen, wie sehr sich die Stimmung gegen die Einsätze gedreht hat: Gesperrte Häfen für die Rettungsschiffe, der Ausbau der Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache bis hin zu Plänen einer neuen Zusammenarbeit mit Ägypten in der Migrationsthematik - die Sicherheitspolitiker haben übernommen. Inzwischen setzt die EU auf die libysche Küstenwache, die aufgerüstet wurde, um Migranten an der Fahrt mit Kurs Europa zu hindern.

Fast 80.000 Bootsflüchtlinge haben allein Schiffe mit Helfern der Organisation Ärzte ohne Grenzen seit 2015 nach Europa gebracht. Die Verteilung der Menschen hat immer wieder zu erbittertem Streit geführt - aber auch zu einer Grundsatzfrage: Halten die Helfer eine Migrationsbewegung in Gang und beschleunigen sie gar?

Schon 2017 kritisierte die EU-Grenzschutzagentur Frontex die Rettungseinsätze vor Libyen. Die Geschäfte krimineller Netzwerke und Schlepper sollten nicht noch dadurch unterstützt werden, dass die Migranten immer näher an der libyschen Küste von europäischen Schiffen aufgenommen würden, sagte Frontex-Direktor Fabrice Leggeri. Das führe dazu, dass Schleuser noch mehr Migranten auf die seeuntüchtigen Boote zwängen.

"Die Vorstellung, dass NGO-Schiffe Schlepper sind, dass ihre reine Präsenz Menschen überhaupt erst aufs Meer locken. Das ist eine der Vorbedingungen aus meiner Sicht, dass die derzeitige Blockade und Kriminalisierung der Seenotrettung tatsächlich passieren kann, ohne dass es den eigentlich notwendigen öffentlichen Aufschrei gibt", sagt Philipp Frisch, Experte für humanitäre Fragen von Ärzte ohne Grenzen, im September.

"Wenn Sie diesen Vorwurf umdrehen, bedeutet dies ja: Um Migration nach Europa zu verhindern, müssen wir einfach nur dafür sorgen, dass die Menschen, die dies versuchen, nicht ankommen. Ist das sozusagen der Umkehrschluss? Wenn private Seenotrettung nicht mehr stattfindet und einfach nur genug Menschen sterben, dann werden die anderen schon abgeschreckt davon und werden es gar nicht erst versuchen?", so Frisch.

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