Europa und Großbritannien Abgeblitzt

Diese Europäische Union ist für Überraschungen immer wieder gut. Da wird im einen Augenblick verbittert um Solidarität in der Flüchtlingsfrage gerungen, während die 27 Mitgliedstaaten im nächsten Augenblick wie ein Mann gegen London die Grundpfeiler der EU, also Freizügigkeit und Nichtdiskriminierung ihrer Bürger in anderen Länder, verteidigen.

Auch wenn der britische Premier David Cameron nach den Beratungen über seine Reformwünsche so tat, als sei man auf einem guten Weg: Er ist kein Stück weitergekommen. Natürlich wehrt sich niemand gegen Bürokratieabbau oder mehr Wettbewerbsfähigkeit, gegen größere Kompetenzen der nationalen Parlamente angesichts wachsender EU-Vorgaben oder mehr Abgrenzungsmöglichkeiten der Nicht-Euro-Mitglieder gegen den Sog, den die Währungsunion mit ihrem Zusammenwachsen erzeugt. Aber bei den Sozialleistungen für EU-Zuwanderer hört der Spaß auf. London will sie erst nach Jahren zahlen, die Union kann das nicht zulassen, ohne ihre mühsam errungenen Freiheiten zu riskieren.

Die Suche nach einem Kompromiss gestaltet sich deswegen so schwierig, weil Cameron britischer Premier und kein europäisch denkender Regierungschef ist. Der Brite will keinen Kompromiss für die Gemeinschaft, sondern eine Lösung, die er innenpolitisch instrumentalisieren kann. Dabei übergeht er die Frage, ob der EU-kritische Anteil der Briten sich tatsächlich von Vertragskosmetik beeindrucken ließe.

Um es anders zu sagen: Glaubt Cameron wirklich, dass ausgerechnet er, der jahrelang Brüssel zum Sündenbock für eigene Versäumnisse gemacht hat, plötzlich als glaubwürdiger Verteidiger der EU auftreten kann, nur weil die Regierung künftig keine Familienleistungen für Einwanderer mehr zahlen muss? Cameron hat sich mit seinem aus der Not geborenen Referendum eine Falle gestellt. Er wollte die Front der EU-Kritiker auflösen und als Unterstützer gewinnen. Einwanderung von Nachbarn mag für die Inselbewohner ein großes Thema sein, für einen Umbau der EU reicht das nicht. Er wird nicht als Vater einer großen EU-Reform in die Geschichte eingehen, sondern bestenfalls als jemand, der Brüssel einen Anhang zum EU-Vertrag abgetrotzt hat, der nicht mit Pauken und Trompeten gefeiert, sondern der gelegentlich im Rahmen eines schriftlichen Umlageverfahrens an den Lissabonner Vertrag angefügt wird. Das ist kein Bollwerk, mit dem Cameron einen Brexit abwehren kann.

Die ersten Gespräche, die Cameron jetzt in Brüssel geführt hat, zeigten: Der Premier schickt Botschaften nach Hause, die Stärke und Erfolg signalisieren sollen. Tatsächlich aber haben ihm die EU-Partner ausnahmslos klargemacht, dass er sich auf dem Holzweg befindet. Europäische Freiheiten stehen nicht zur Disposition. Das ist, als Abfallprodukt neben dem Streit bei anderen Punkten, sogar eine gute Botschaft.

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