Kommentar Abzug aus Afghanistan - Verlorene Unschuld

Nun verlässt die Bundeswehr also Kundus. Den Ort, wo ihre Soldaten töteten und starben. Den Ort, an dem die Bundeswehr nicht nur erstmals seit Bestehen gekämpft hat, sondern "zu kämpfen lernte", wie Verteidigungsminister Thomas de Maizière erklärte.

Lernen musste, denn die Bundeswehr landete in Kundus, weil Berlin sich und der deutschen Bevölkerung einen Einsatz im unruhigeren Süden Afghanistans nicht zumuten wollte. Das brachte ihr bei den Afghanen und auch im Kreis von Nato-Verbündeten den Ruf von "Feiglingen" ein, den sie nie völlig los wurde.

Zehn Jahre, nachdem das Lager in Kundus von den USA übernommen wurde, ziehen die deutschen Soldaten auch aus dem Ort ab, an dem die Bundeswehr ihre Unschuld verlor. Bis heute ist die Anzahl der Zivilisten - 60 bis 120 - nicht eindeutig geklärt, die bei dem verhängnisvollen Luftangriff im Jahr 2009 ums Leben kamen, die der damalige Kommandeur von Kundus angeordnet hatte. Der Offizier wurde später sogar befördert.

Doch die Probleme, die im Norden Afghanistans hinterlassen werden, unterscheiden sich kaum von den politischen und militärischen Schwierigkeiten, die Afghanistans Zukunft zwölf Jahre nach Ankunft der ersten Nato-Soldaten überschatten. Parlament und Regierung am Hindukusch befinden sich auf einem Eilmarsch zurück in die politische Steinzeit. Die Abgeordneten beschränken die wenigen, seit 2001 erreichten Rechte von Frauen.

Sogar die Pressefreiheit ist wegen eines neuen Mediengesetzes bedroht. Bis auf einen Bruder von Präsident Hamid Karsai gleichen sich die aussichtsreichen Präsidentschaftskandidaten fast alle in zwei Punkten: Sie waren und sind Kriegsfürsten, die alle im Jahr 2001 vom Westen aus der Verbannung zurückgeholt wurden. Sie alle lehnten 1990 nach dem Abzug der Sowjetunion demokratische Wahlen ab, weil der Islam angeblich keine allgemeinen Wahlen vorsieht.

Jetzt wollen sie vor dem Abzug der westlichen Kampftruppen im April kommenden Jahres bei den Präsidentschaftswahlen um die Gunst der Wähler rangeln. Dabei entscheidet nur einer über die Nachfolge von Hamid Karsai - er selbst. Der Westen hinterlässt nach mehr als einem Jahrzehnt also politische Verhältnisse am Hindukusch, die sich immer weniger von der Diktatur der Talibanmilizen zwischen 1996 und 2001 unterscheiden.

So blamabel dies ist, so düster sieht es mit Friedenschancen aus. Alle Seiten beteuern, sie wollten reden - und keine kriegsbeteiligte Partei will verhandeln. Gegenwärtig ist nicht einmal geklärt, wie nach Ende 2014 die zukünftige militärische Zusammenarbeit zwischen dem Westen und Kabul aussehen soll. Dennoch wird bei allen am Hindukusch stationierten Nato-Truppen eifrig gepackt. Niemand will der letzte sein.

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