Kommentar Bundeskanzlerin in der Flüchtlingskrise: Merkels Nöte

Eine Haltung ist eine Haltung. Sie zeugt von Überzeugung gerade gegen Widerstände. Es ist eine Positionierung, die nicht gleich bei mittlerem Gegenwind aufgegeben wird.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in der Flüchtlingsfrage Haltung gezeigt und an einem Wochenende Zehntausende Schutzsuchender unbürokratisch nach Deutschland einreisen lassen. Das Geschrei aus den Bundesländern, allen voran das in diesem Fall besonders grenznahe Bayern, war unüberhörbar. Die deutsche Regierungschefin hat eine von Prinzipien getragene Haltung auch bei der von Moskau unterstützten Aggression sogenannter Separatisten in der Ostukraine bewiesen, weshalb nicht ganz ausgeschlossen ist, dass Merkel in dieser Woche in Oslo für den Friedensnobelpreis ausgerufen wird.

Zurück zum Flüchtlingsansturm, der für eine Krise im dreifachen Sinne steht: für den Krieg und den Zerfall von Herkunftsstaaten wie Syrien, Irak oder Afghanistan, für womöglich bald erschöpfte Aufnahmekapazitäten in den Ländern und Kommunen sowie für eine politische Debatte innerhalb der großen Koalition, die für Merkel noch zu einer echten Krise ihrer Kanzlerschaft werden könnte. Auch Merkels Vorgänger Gerhard Schröder hat mit der Agenda 2010 vor dem Hintergrund von mehr als fünf Millionen Arbeitslosen eine Trendwende beschlossen und damit zuerst die breite Unterstützung seiner Partei, dann die Mehrheit der Bundesländer und schließlich auch das Kanzleramt verloren.

Richtig, Geschichte wiederholt sich nicht, doch Merkel könnten schwere Zeiten mit (unkalkulierbaren) politischen Risiken bevorstehen. 800.000 Flüchtlinge waren für dieses Jahr prognostiziert worden. Doch einige Ministerpräsidenten gehen längst davon aus, dass es deutlich mehr werden: eine Million mindestens. Und auch eine Zahl von 1,5 Millionen ist mittlerweile nicht mehr ausgeschlossen, wenn auch nicht regierungsamtlich bestätigt. In diesem Jahr ist das verkraftbar, aber es kann sich nicht über drei, vier, fünf Jahre wiederholen. Und der Flüchtlingsansturm kann wegen seiner ungebremsten Kraft ohnehin nur gesamteuropäisch bewältigt werden.

Die große Koalition ist eine große Koalition, weil gerade sie in schweren Zeiten große Aufgaben mit weitreichenden Entscheidungen stemmen könnte (und müsste). Doch Merkels Mut in der Flüchtlingsfrage, die noch einmal betont hat, dass das Asylrecht keine Obergrenzen kenne, teilen nicht alle in der Koalition. Sowohl CSU-Chef Horst Seehofer wie auch SPD-Chef Sigmar Gabriel, aber auch Teile von Merkels CDU sind skeptisch, ob Deutschland wirklich einer solchen Zahl verfolgter und aus Kriegselend fliehender Menschen Schutz bieten kann. Dass Seehofer ohnehin nicht zu steuern ist, hat Merkel gelernt. Die SPD wiederum sitzt zwischen zwei Stühlen: Auf der einen Seite gehört Hilfe für Verfolgte zur politischen DNA der Sozialdemokratie, auf der anderen Seite wissen ihre Ministerpräsidenten und (Ober)Bürgermeister, dass sie die derzeit noch hohe Toleranz in der Bevölkerung nicht überstrapazieren dürfen.

Merkels Nöte, Gabriels Chance? So einfach ist es nicht. Aber die Kanzlerin agiert mit einigem Risiko. Aus Überzeugung.

Der Mann, der 30 Sprachen spricht
Heiner Claessen hat eine besondere Begabung Der Mann, der 30 Sprachen spricht