Diskussion in Pro und Contra Darf der Staat unsere Freiheitsrechte so radikal einschränken?

Meinung | Bonn · Der Kampf gegen die Pandemie des Coronavirus erfordert drastische und außergewöhnliche Maßnahmen. Doch darf der Staat unsere Freiheitsrechte so massiv beschneiden? Eine Debatte in Pro und Contra.

 Ausnahmesituationen erfordern Ausnahmemaßnahmen. „Stay at home“, steht auf einem Banner geschrieben.

Ausnahmesituationen erfordern Ausnahmemaßnahmen. „Stay at home“, steht auf einem Banner geschrieben.

Foto: dpa/Christian Charisius

Pro: „Gefährliche Debatte, falscher Zeitpunkt“

Es war der Freitag, der 13., seit alles anders wurde. Es war der Tag, an dem die Schüler nach Hause geschickt wurden, weit vor den Ferien. Auch die Abiturienten erlebten ein unwürdiges, weil zu plötzliches Ende ihrer Schulzeit. Seitdem muss alles neu gedacht werden. Alle Gewohnheiten und alle Routinen stehen auf dem Prüfstand. Mit ansteigender Kurve wurden seitdem im Eilschritt staatlicherseits Verbote ausgesprochen, Regeln erlassen und weitreichend Grundrechte eingeschränkt. Das ist erst 14 Tage her.

Und jetzt entspinnt sich die Debatte, ob das alles so gerechtfertigt ist. Ob hier nicht der Teufel mit dem Belzebub ausgetrieben wird. Die Demokratie wird leichtfertig auf dem Altar der Volksgesundheit geopfert? Und wer ist autorisiert, zu beurteilen und zu bestimmen welches Gut das höhere ist – die Gesundheit oder die Freiheit?

Wenn dieses Thema jetzt die Tournee durch die Tribunale der Fernsehtalkshows antritt, dann ist das zwar einerseits nachvollziehbar, andererseits könnte der Zeitpunkt nicht gefährlicher sein.

Denn es dürfte doch niemand bezweifeln, dass es in der jetzigen Situation unabdingbar ist, Ruhe, Gelassenheit und - ja auch - Disziplin zu wahren. Es geht um Leben und Tod. Und das ist keine akademische Diskussion. Und das sollte auch nicht akademisch diskutiert werden, sondern immer im Lichte dessen, was die Alternativen sind.

Wir leben längst in einer Zeit, in der Individualismus und Egoismus unausgesprochen höchste Sympatiewerte erreichen. Da bedarf es einer außerordentlichen Kraftanstrengung, die Menschen zur Raison zu bringen. Ja, das gilt nicht für alle, aber leider für viel zu viele. Denen dürfen wir keine Argumente an die Hand geben, sich aus der Solidarität des gemeinsamen Kampfes gegen eine unheimliche Pandemie zu verabschieden. Auch die Vernünftigen und Besonnenen merken es doch Tag für Tag. Man musste sich erst einmal in das Problem eindenken. Man musste erst einmal verstehen, welche Dimensionen die weltweite Verbreitung des Coronavirus anzunehmen im Stande ist.

Wie viele Menschen haben am Anfang gewettert: Alles übertrieben! Alles Hysterie! An der Front ist es ruhig geworden. Allmählich haben wir verstanden, dass es der Kraftanstrengung lohnt, sich zu beschränken. Es scheint, als sei die Vernunft ausgebrochen. Und das, obwohl viele wirtschaftlich ums Überleben bangen, obwohl den meisten der Alltag schwer geworden ist, obwohl viele Angst haben vor morgen. Es ist unsere Aufgabe, jetzt die Ruhe zu bewahren und rational abzuwägen. Ja, wir brauchen ein Ausstiegsszenario, das langfristig alle vorgenommenen Einschränkungen unserer Freiheit zurückdreht. Ich habe keinen Zweifel, dass dieser Gedanke unstrittig ist. Was wir nicht brauchen, ist eine ausladende Debatte, die sinnvolle Schutzmaßnahmen unterminiert.

(Jörg Manhold)

Contra: „Es braucht eine breite Diskussion“

Darf ich noch meine Freunde zu Hause zum Spieleabend besuchen? Darf ich mich mit einer Bekannten zum Spazierengehen treffen? Was droht mir, etwa in Berlin, wenn mich die Polizei beim Lesen auf der Parkbank erwischt? Die meisten werden sich solche oder ähnliche Fragen gerade stellen. Fragen, bei denen mir als Bürger eines liberalen Rechtsstaats mulmig wird.

Um es gleich deutlich zu sagen: Dies ist kein glasklares „Contra“. Auch ich erkenne die Kontaktverbote als notwendig an, weil zu viele Menschen nicht freiwillig zu Hause bleiben wollten. Auf die mangelnde Rücksichtnahme hat der Staat mit Zwang reagiert, um die rasante Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen und Leben zu retten. Und die verantwortlichen Politiker haben es sich sichtbar nicht leicht gemacht. Niemand, der bei Sinnen ist, würde Angela Merkel oder Armin Laschet unterstellen, sie wollten Deutschland in eine Diktatur verwandeln.

Und doch macht es stutzig, wie schnell und weitgehend diskussionslos die Regierung in der Krise die Grundrechte aushebeln kann. Freizügigkeit, Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit, Gewerbefreiheit: Von all dem ist aktuell nicht mehr viel übrig. Zugleich wandelt sich der Staat vom Grundrechts-Garanten zum Grundrechts-Gewährenden: Wenn ihr euch wohlverhaltet, ruft er streng den Bürgern entgegen, gestehe ich euch Freiheiten zu. So, als müsste man sie sich verdienen.

Fast noch stutziger macht der Umgang vieler Bürger mit den drastischen Einschränkungen. Da wird nach Unfreiheit, in diesem Fall Ausgangssperren, regelrecht gerufen. Und wer auch nur vorsichtig darauf hinweist, dass hier gerade fundamentale Freiheiten eingeschränkt und normale Alltagshandlungen mit Bußgeldern und Strafen bedroht werden, stellt sich ins Abseits. Das sei gefährliches Gerede, heißt es dann, es gehe schließlich um Leben und Tod.

Tatsächlich geht es um Leben und Tod – und der Staat gewichtet in der Bekämpfung der Corona-Krise den Schutz des Lebens zu Recht höher als die anderen Freiheiten. Aber was die Regierung auch unternimmt, muss erforderlich, geeignet und verhältnismäßig sein. Die Bürger müssen genau hinsehen, was ihnen der Staat nimmt und warum – und da­rüber wachen, dass er es vollständig zurückgibt. Darüber muss eine demokratische Gesellschaft reden und streiten. Und zwar genau jetzt. Trotz der aktuell drängenden lebenstrettenden Maßnahmen.

Niemand darf sich an einen Ausnahmezustand wie diesen gewöhnen. Wer weiß, welche Regierung Deutschland in 30 Jahren hat und wie diese dann auf eine solche Krisenlage reagiert. Das ist keine lebensfremde Debatte fürs Proseminar Staatsrecht. Das Grundgesetz wurde auch für Krisenzeiten gemacht. Jeder sollte daran interessiert sein, dass die darin verbrieften Freiheiten überdauern.

(Nils Rüdel)

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