Kommentar Der Fall Timoschenko - Die Welt schaut hin

Man kann dem Bundespräsidenten nur applaudieren für seine Entscheidung, die Einladung des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch nach Jalta auszuschlagen. Der Rachfeldzug Janukowitschs gegen die erkrankte Oppositionsführerin Julia Timoschenko, die Ikone der orangenen Revolution von 2004, trägt Züge finstersten Stalinismus'.

Janukowitsch, übrigens ein notorischer Wahlfälscher, ist zur Bekämpfung der politischen Konkurrentin anscheinend kein Mittel fremd: Unter den Augen der Weltöffentlichkeit lässt er die kranke Frau durch staatliche Büttel misshandeln und verweigert der nach einem vermutlich politisch gesteuerten Prozess Inhaftierten Behandlung nach ihrem Wunsch.

Dass Timoschenko nicht von ukrainischen Ärzten behandelt werden will, ist verständlich. Schließlich wäre ihr Mitstreiter von 2004, Wiktor Juschtschenko, beinahe an einer Dioxinvergiftung zugrunde gegangen, die ihm womöglich von Agenten der damaligen Regierung beigebracht wurde.

Die Absage Joachim Gaucks ist ein Warnschuss für die Führung eines Landes, das nicht nur ab Anfang Juni Ko-Gastgeber der europäischen Fußball-Elite sein wird, sondern über kurz oder lang auch die Mitgliedschaft in der Europäischen Union anstrebt. Die Botschaft aus Bellevue und - die enge Absprache wird deutlich betont - Kanzleramt: Wir schauen nicht weg. Wenn die ukrainische Regierung nicht zu einem zivilisierten Umgang mit Timoschenko findet, könnte die EM für Janukowitsch zum diplomatischen Desaster werden.

Ob sich die Potentaten, Gewaltherrscher und Diktatoren dieser Welt immer im Klaren sind, was es bedeutet, wenn sie scheinbar unpolitische internationale Großereignisse aus Sport und Show ins Land holen? Die Erfahrung, dass Oppositionelle die weltweite Aufmerksamkeit nutzen, um den Blick auf politische Missstände im Land zu lenken, machte im Vorfeld des Formel-1-Rennens in Bahrain jüngst das dortige Herrscherhaus. Ab dem 22. Mai gastiert der European Song Contest im aserbaidschanischen Baku, wo der Autokrat Ilham Alijew herrscht, im Juni treten die europäischen Spitzenfußballer in der Ukraine an.

Brot und Spiele sind in der Gegenwart so weltöffentlich wie nie zuvor - für Oppositionelle und Protestbewegungen die einmalige Chance, ihre Ziele im Angesicht der Weltöffentlichkeit zu formulieren. Eine Chance, die ein internationaler Boykott übrigens zunichte machen würde.

Der ukrainische Präsident muss sich schnell entscheiden, ob er seine brutale Fehde gegen Timoschenko fortsetzen will. Welcher europäische Politiker will sich - auch mit Rücksicht auf die Heimat - mit einem Präsidenten zeigen, der politische Gegner misshandeln lässt? Die EM im eigenen Land könnte für Janukowitsch zu einer ziemlich einsamen Veranstaltung werden.

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