Kommentar Deutsche Einheit - Die Normalität feiern

Wir Deutsche haben ein gut erprobtes Talent, uns die Stimmung zu vermiesen. 25 Jahre seit dem Fall der Mauer, 24 Jahre Wiedervereinigung - zweifellos ein Grund zu feiern.

Aber ist uns wirklich danach? Natürlich, an Gedenkveranstaltungen, offiziellen Erinnerungen, an großen Worten und kleinen Empfängen hat es keinen Mangel. Staatstragende Rhetorik wird am 3. Oktober auf uns niederprasseln - und keine Spuren hinterlassen. Euphorie gibt es nirgends, Freude nur gelegentlich. Stattdessen Routine, Gleichgültigkeit. Nur den freien Tag nimmt jeder gerne mit.

Es ist keine Schande, sich das einzugestehen. Immerhin drückt sich darin auch eine Normalität aus. Eine Normalität, die seltsamerweise gerade an den Jahrestagen der Einheit infrage gestellt wird, wenn uns die Statistiker bis hinters Komma genau die Unterschiede der Lebenslagen in Ost und West vorrechnen: das Gefälle bei den Einkommen, bei den Arbeitslosenzahlen und der Wirtschaftskraft. Dann sieht es doch wieder so aus, als gäbe es nun einen unsichtbaren Graben, wo früher sichtbar und bedrohlich die Mauer gestanden hat.

Natürlich geht es den noch oft so genannten "neuen Bundesländern" als Ganzes in manchem schlechter als "dem Westen". Aber es geht dem Süden ökonomisch auch besser als dem Norden, ohne dass dies mit einer vorurteilsbelasteten Debatte verbunden wäre. Wer die Lage der Nation erfassen will, muss Gleichartiges vergleichen.

Es gibt strukturschwache Regionen im Westen - und wer in NRW sucht, wird auch dort fündig - die sich von der Entwicklung abgehängt fühlen, wogegen östliche Regionen inzwischen mit sehr tauglicher Infrastruktur aufwarten. Das alles hat übrigens ziemlich handfeste politische Konsequenzen, oder sollte sie zumindest haben.

Wenn demnächst über die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern zu sprechen sein wird, dann wäre es an der Zeit, passgenaue Instrumente zu finden, die nicht mehr - wie beim Solidarpakt - den ostdeutschen Ländern per se besondere Förderungswürdigkeit bescheinigen.

Muss man zum Feiertag Klage führen, dass all die Euphorie der frühen Jahre dieses hoffnungs- und traumbefrachteten gesamtdeutschen Anfangs von 1989/90 verflogen ist? Nein, das muss man nicht. 25 Jahre nach dem Fall der Mauer ist das eingetreten, was sich einst alle so sehnlich herbeigesehnt hatten: Es ist endlich Alltag, dass keine Grenze die freie Reise von Bonn nach Bautzen verhindert.

Es ist Alltag, dass ein Studium in Frankfurt/Main beginnt und in Frankfurt/Oder fortgesetzt werden kann. Es ist Alltag, dass der Rheinländer seinen Urlaub auf Rügen und der Sachse an der Nordsee verbringt. Das kann man langweilig finden. Es ist aber nicht langweilig. Es ist großartig. Wir Deutschen hätten Grund, die Normalität zu feiern.

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