Kommentar Die Briten und Europa - Camerons Visionen

Zwei Überraschungen steckten in der Grundsatzrede zur EU. Die erste: Dass David Cameron Großbritannien tatsächlich ein Referendum verspricht.

Damit bindet er seine eigene politische Karriere an eine kapriziöse, riskante Stimmung im Land, die er schon jetzt nicht mehr steuern kann. Die zweite: Der britische Premier empfiehlt sich als radikaler EU-Reformer.

Das mag man unangemessen finden, weil das Land seit jeher eine EU-Außenseiterrolle zelebriert. Doch durch die britische Linse betrachtet, liegt auf dem Kontinent einiges im Argen. Der Binnenmarkt etwa - verkrustet durch den Kalk starrer Bürokratie. Wettbewerbsfähiger und turbo-flexibel soll die EU werden, die Fesseln starrer Vorschriften sprengen, den Unternehmen Freiheit schenken. Kurzum: Die EU soll am besten so werden wie Großbritannien.

In mancher Hinsicht stimmt das. Ein Gewerbe anzumelden geht auf der Insel schnell: Zwei Formulare, 20 Minuten Wartezeit, mehr braucht es nicht. Die Steuererklärung passt auf einen Bierdeckel, Festangestellte brauchen gar keine. Wer seinen Job verliert, wird anderswo schnell willkommen geheißen.

Das ist die Flexibilität, die Cameron rühmt. Das Fehlen sozialer Sicherheit ist die Kehrseite. Nichts stachelt die Konservativen so auf, wie Vorstöße aus Brüssel, die Arbeitszeiten von Angestellten zu begrenzen oder Zeitarbeitern ähnliche Rechte einzuräumen wie Festangestellten. Dies sind die EU-Direktiven, die auf der Insel als Erstes torpediert werden, wenn Kompetenzbereiche aus Brüssel nach Westminster zurückwechseln.

"Ich will einen besseren Deal für Großbritannien und für Europa", sagte Cameron gestern - eine Formulierung, die alles verrät. Bei der Europa-Frage geht es den Briten vor allem ums Business, um Zugang zum Binnenmarkt ohne eigene Verpflichtung, um unregulierte Beschäftigungsmodelle mit minimalen Sozialabgaben und Lohnnebenkosten.

Blenden lassen von der schillernden Vision eines flexiblen Europas sollte man sich nicht. Im Gegenteil: Mit einem Verweis auf andere Modelle prosperierender EU-Länder mag auch britischen Arbeitnehmern klar werden, dass sie in einem Großbritannien ohne Brüssel mehr verlieren als gewinnen.

Andere Kritikpunkte der Briten sind indes nicht von der Hand zu weisen: Mangelnde Mitspracherechte der Bürger, ferne Gremien, Gelder, die über Grenzen und Köpfe hinweg transferiert werden - diese Zustände provozieren auch anderswo viel Protest. Brüsseler Reaktionen fallen gerade deshalb so empört und getroffen aus, weil Cameron mit Blick auf diese Schwächen recht hat. Statt ihm "Rosenpicker-Politik" vorzuwerfen, sollte die EU genau damit anfangen: Die guten Ideen der Rede anstoßen und umsetzen, die schlechten als solche in Großbritannien aufzeigen.

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