Die Demonstrationen in Russland: Bürgergesellschaft
Den ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag "Stabilität gegen Nicht-Einmischung in Dinge der Staatsspitze" haben Russlands Demonstranten, die zu Zehntausenden auf die Straße eilen, nun zerrissen.
Der Kreml muss die Schnipsel aufsammeln und mit den Protestlern zusammen einen neuen Vertrag aufsetzen. Denn bis zur Präsidentschaftswahl im März 2012 werden noch mehr Unzufriedene auf den Straßen der Hauptstadt und anderswo protestieren.
Sie haben gesehen, dass die Polizei nicht zuschlägt, sie haben verstanden, dass sie mit ihrer Meinung nicht länger allein sind. Gerade diese neue, wichtige Erkenntnis ist ein echter Wandel in der russischen Politik, auch wenn er momentan noch keine konkreten politischen Folgen zeigt.
Die Regierung reagiert noch immer arrogant, sie verspricht besänftigend Reformen. Die Taktik der Zugeständnisse aber - vor allem die direkten Gouverneurswahlen und die leichtere Registrierung von Parteien - funktioniert nun nicht mehr. Langsam setzt sich in der russischen Gesellschaft die Überzeugung durch, dass jeder Einzelne etwas zählt. Zudem ist mittlerweile eine Generation herangewachsen, die den Schock der Wende nicht bewusst miterlebt hat.
Russland ist stabil, das sagt nicht nur Wladimir Putin, das weiß auch sein Volk. Eben deshalb verpuffen die Warnungen des Premierministers vor dem Chaos. Die Bürgergesellschaft etabliert sich.
Das ist die wichtigste Erkenntnis 20 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion. Erst jetzt wird sie zu Grabe getragen.