Essay zur Corona-Krise Die Grenzen der Freiheit

Meinung | Berlin · Der Staat greift wegen der Coronakrise massiv in unsere Freiheitsrechte ein und wir nehmen es hin. Bei einer Kanzlerin Merkel ist das keine Gefahr. Aber grundsätzlich ist es ein Risiko – ein Essay zum Thema.

 Die Bürger vertrauen in dieser Krise dem Staat grundsätzlich.

Die Bürger vertrauen in dieser Krise dem Staat grundsätzlich.

Foto: picture alliance/dpa/Jörg Carstensen

Wie sich Ausgangssperren anfühlen, konnten in der Bundesrepublik zuletzt Eltern und Großeltern aus Kriegszeiten berichten. Ein von Angst, Überwachung, Verboten und Strafen geprägtes Leben. Es ging nicht nur um Schutz vor Bomben und Plünderungen. Autoritäre Regime und Diktaturen verhindern so, dass sich Menschen versammeln und organisieren können. Widerstand in der Bevölkerung wird gebrochen. Das wunderbare deutsche Grundgesetz macht das Gegenteil. Es sichert den Bürgern das Recht auf Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit, Bewegungsfreiheit, Reisefreiheit und vieles mehr zu.

Die Demokratie, so verletzlich sie sich damit zugleich macht, lebt davon: Vielfalt, Lebendigkeit, Streitbarkeit, Öffentlichkeit, Offenheit, Freiheit. Das alles ist in Deutschland über die Jahrzehnte so selbstverständlich geworden, dass ein Eingriff in die Grundrechte kaum vorstellbar war. Erst recht nicht unter einer aus der DDR stammenden Kanzlerin Angela Merkel, die immer und überall eines verteidigt hat: die Freiheitsrechte.

Doch die Coronakrise macht auch vor der Verfassung nicht Halt. Seit dem Zweiten Weltkrieg wurden Grundrechte nicht mehr so eingeschränkt wie jetzt. Absagen von Veranstaltungen, Einschränkungen der Mobilität, Schulschließungen, Besuchsverbote in Altenheimen. Alle sozialen Kontakte sollen so weit wie möglich vermieden werden. Schilderungen, dass selbst Sterbende nicht von allen Familienmitgliedern begleitet werden dürfen, sind herzzerreißend. Und trotzdem bleibt es ruhig in diesem Land, wo sich die Menschen sonst über kleine Widrigkeiten so riesig aufregen können. Viele fügen sich. In der Not nehmen wir das diszipliniert zur Kenntnis.

Das liegt im Wesentlichen wohl daran, dass die Bürger in dieser Krise dem Staat grundsätzlich vertrauen. Den Landesregierungen und der Bundesregierung. Und zwar nicht nur, weil diese Milliarden-Nothilfen beschlossen haben, sondern, weil man ihnen glaubt, dass nach der Krise wieder alle Rechte umgehend und umfassend gelten wie zuvor. Merkel hat es in ihrer ungewöhnlichen Fernsehansprache am Mittwochabend versichert: „Für jemanden wie mich, für die Reise- und Bewegungsfreiheit ein schwer erkämpftes Recht war, sind solche Einschränkungen nur in der absoluten Notwendigkeit zu rechtfertigen. Sie sollten in einer Demokratie nie leichtfertig und nur temporär beschlossen werden. Aber sie sind, im Moment unverzichtbar, um Leben zu retten.“

Die Kanzlerin war in dieser Rede an die Nation so authentisch wie noch in keiner ihrer üblichen Neujahrsansprachen, in denen ihre Stimme und Körpersprache eher so wirkten, als lese sie ein Märchen vor. In ihrem dramatischen Appell an die Bürger, dass sie die Coronakrise ernst nehmen müssen, verhielt sie sich wie in persönlichen Gesprächen. Beruhigend, ernst, direkt. Bis hin zu ihrer Kritik an Hamsterkäufen, „als werde es nie wieder etwas geben“. Vorratshaltung sei sinnvoll – „aber mit Maß“, sagte Merkel und runzelte die Stirn, als sollten sich alle einmal am Riemen reißen, die glauben, über Deutschland bräche nun eine Hungers- oder Toilettenpapiernot herein.

Womit wir bei Selbstdisziplin und Eigenverantwortung sind. Je weniger Menschen zusammenkommen und je mehr Menschen bei der nötigen Aufrechterhaltung des restlichen öffentlichen Lebens alle Vorsichtsmaßnahmen beherzigen, desto größer die Chance, dass sich das Virus langsamer ausbreitet und das Gesundheitssystem nicht überfordert wird. Doch genau hier gibt es Verstöße und unverantwortliche Sorglosigkeit. Körperkontakt beim Einkaufen. Enges Beisammensein im Park, unnötige Reisen.

Eine Eskalationsstufe hat der Staat da noch: Ausgangssperren. In bayerischen Kommunen gibt es sie bereits und Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hat gedroht, sie auf das ganze Bundesland auszuweiten. Auch diese Axt darf ans Grundgesetz gelegt werden. Wenn auch nur mit hohen Hürden und über das föderale System.

Ein gravierender Einschnitt

In Artikel 2 (Persönliche Freiheitsrechte), wird klargestellt: „In diese Rechte darf nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden.“ Das wäre das Infektionsschutzgesetz, Paragraf 28. Danach darf die zuständige Behörde – etwa das Gesundheitsamt – „Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte nicht zu betreten, bis die notwendigen Schutzmaßnahmen durchgeführt worden sind“. Das betreffende Bundesland müsste eine Rechtsverordnung erlassen, in der es die Einzelheiten regelt, schreibt der Rechtswissenschaftler Volker Bohmer-Neßler in der „Zeit“. Kontrolle und Durchsetzung wäre dann Aufgabe der Polizei.

Ein gravierender Einschnitt. Er muss verhältnismäßig sein, was bedeutet, Ausgangssperren wären das letzte Mittel, um die Pandemie in Deutschland noch zu begrenzen. Die Deutschen würden es aber sicher verstehen, auch ohne, dass Merkel wie Frankreichs Präsident Emmanuel Macron von „Krieg“ spricht.

Aber diese in der Geschichte der Bundesrepublik erstmalige Beschränkung der Grundrechte wird Spuren hinterlassen. Wir wissen nun, was möglich ist. Derzeit wird auch darüber beraten, wie die Bundesregierung über den klar geregelten Verteidigungsfall hinaus in einer Seuchenkrise besser auf die Länder zugreifen kann, was das föderale System bisher verhindert. Aber nicht alles, was jetzt möglich und rechtens ist, ist auch später einmal gut. Merkel wird als Erstes die Einschränkungen der Freiheitsrechte rückgängig machen, wenn die Krise im Griff ist. Einem Präsidenten Trump ist zuzutrauen, dass ihm ein besserer Zugriff auf die Bürger für den Rest seiner Regierungszeit ganz gut gefallen könnte. Es kommt immer auf die Politiker an, die den Staat lenken.

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