Kommentar Die Lage der politischen Linken - Ende der Ausschließeritis

Berlin · Politik muss realistisch bleiben. Deswegen können die koalitionspolitischen Spielchen, die in den nächsten Tagen und Wochen in Berlin, aber auch in Wiesbaden, präsentiert werden, an einer Tatsache nicht vorbei: Die Linkspartei ist zur dritten Kraft in Gesamt-Deutschland aufgestiegen.

Das ist - 24 Jahre nach der Verwirklichung der deutschen Einheit - eine Entwicklung, die bisher nicht für möglich gehalten wurde.

Der Aufstieg der Linken löst zunächst einmal immer noch emotionale Reaktionen aus, die Unbehagen zum Ausdruck bringen. Wie kann eine Partei, die als SED-Nachfolgeorganisation zu gelten hat, sich dermaßen beim Wähler profilieren? In Teilen der Links-Partei - und dies beileibe nicht nur in der Kommunistischen Plattform Sahra Wagenknechts - herrscht ein völlig ungeklärtes Verhältnis zur DDR-Diktatur, zu Schießbefehl und Menschenverachtung.

Insoweit kann man diese Partei emotional nur auf das Schärfste ablehnen und politisch bekämpfen. Aber (Real)-Politik ist mehr als das Ausleben von Gefühlen. Die "Ausschließeritis" (Gregor Gysi) stößt an ihre Grenzen. Und zwar mit jedem Tag mehr.

Dies hat - abseits vom Führungspersonal und dessen Politikverständnis - viel mit einem strategischen Vorteil der Linken zu tun, der selbst laut Umfragen von der Bevölkerung anerkannt wird: Die Linkspartei benennt ökonomische und soziale Probleme klar und präzise. Sie übernimmt damit eine Kernaufgabe der bisher größten Oppositionspartei, der SPD. Diese lebt und agiert in einer zweifachen Kontinuität: Dem heute noch auf ihr lastenden Erbe der Hartz-Reformen und der längeren Lebensarbeitszeit.

Auch Parteichef Gabriel ist es nicht gelungen, die Vergangenheit der SPD als gesellschaftliche und wirtschaftspolitische Reformpartei Schröderscher Prägung aufzuarbeiten. Es gibt eine Art SPD-Beißhemmung, die sich aus der Furcht erklärt, die Folgen der eigenen rot-grünen Regierungsvergangenheit zu konterkarieren. Dies führt zu einem sozialpolitischen Kompetenzverlust gegenüber der Linkspartei, die unbeeindruckt ihr politisches Utopia an die Wand malen kann.

Aber: Es tut sich was in der SPD. Der Tonfall, mit dem Linksbündnisse abgelehnt werden, wirkt weniger unerbittlich. Mehrere Landesverbände lehnen große Koalitionen kategorisch und aus vollem Herzen ab. Das ist teilweise sicher ein Verhalten, mit dem man den Preis für eine Regierungsbeteiligung in Berlin in die Höhe treiben will. Aber beispielsweise die schleswig-holsteinische SPD spricht sich offen für ein Ende der Isolation der Linkspartei aus.

Ähnlich wird im Berliner Landesverband gedacht. Die hessische SPD hat zwar grundsätzlich eine rot-rot-grüne Koalition auf Landesebene ausgeschlossen, aber in den Beschluss Hintertürchen eingebaut. Im Grunde genommen hat die SPD-Spitze die Links-Öffnung auch längst innerlich vollzogen. Eine Koalition SPD/Grüne/Linke darf nur nicht auf Bundesebene beginnen. Als erstes Bundesland käme ausgerechnet Hessen infrage. Auf Bundesebene darf es aus zwei Gründen nicht zu einer Linkskoalition kommen: Die Wirtschaft würde es als ausgeprägtes Investitionshemmnis empfinden. Und: Die Linke steht wegen ihrer Europapolitik im Visier.

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