Kommentar Die Lage in der Türkei - Endzeitstimmung

Mit dem Parlamentsbeschluss zur Schließung von Tausenden privater Nachhilfeschulen, einer wichtigen Einnahmequelle für die Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, hat der Machtkampf in der Türkei einen neuen Höhepunkt erreicht.

Dieser Machtkampf wird mit schockierender Rücksichtslosigkeit auf dem Rücken von Millionen Schülern ausgetragen. Doch Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan geht es nicht um Bildungspolitik. Ihm geht es darum, Gülens Bewegung zu zerstören. Dazu ist ihm jedes Mittel recht. Das zeigte sich schon bei der ebenfalls kürzlich verabschiedeten Justizreform, die der Regierung mehr Einfluss auf Richter und Staatsanwälte einräumt.

In seinen Wahlkampfreden vor der Kommunalwahl am 30. März fordert Erdogan seine Anhänger fast täglich offen auf, sie sollten ihre Kinder aus den Gülen-Schulen holen. Das für sich allein ist bereits ein Unding in einer Demokratie: ein Ministerpräsident, der öffentlich zum Boykott einer bestimmten Privatschul-Kette aufruft.

In der Presse wird der Konflikt zwischen Erdogan und Gülen als "Krieg" bezeichnet, und so ist es wohl auch. Eine der beiden Seiten wird die Auseinandersetzung überhaupt nicht oder nur sehr geschwächt überleben.

Natürlich hat Erdogan das Recht, gegen vermutete politische Seilschaften im Staatsapparat vorzugehen - Gülen ist keineswegs ein lupenreiner Demokrat. Doch mit den Methoden, die er wählt, setzt sich Erdogan selbst ins Unrecht. Das scheint ihm egal zu sein. Der Ministerpräsident baut darauf, dass er die Mehrheit der Wähler von der Darstellung überzeugen kann, wonach sich die Regierung einem Putschversuch der Gülen-Bewegung ausgesetzt sieht, und dass der Zweck die Mittel heiligt.

Doch selbst wenn diese Taktik aufgeht, wird die derzeitige Krise ein politisches Trümmerfeld hinterlassen. Seit dem harten Vorgehen der Polizei gegen die Gezi-Proteste im vergangenen Sommer und erst recht seit Bekanntwerden der Korruptionsvorwürfe im Dezember gibt die Türkei das Bild eines Landes ab, in dem demokratische Rechte nicht viel wert sind, in dem die Regierung die Spielregeln jederzeit außer Kraft setzen kann.

Zwar betont Erdogan, dass er den demokratischen Reformen und der EU-Bewerbung seines Landes verpflichtet bleibt. Doch das nimmt ihm außerhalb der eigenen Anhängerschaft kaum jemand ab. Seine immer neuen Versuche, den Rechtsstaat zu seinen Gunsten umzuformen und unabhängige Untersuchungen der Korruptionsfälle zu stören, haben seine Glaubwürdigkeit als Reformer im In- und Ausland zerbröseln lassen. Für Erdogan und die Türkei wird es schwer, diesen verheerenden Eindruck wieder zu korrigieren. Seine Anhänger mögen ihn als Helden sehen - in den Augen vieler anderer Türken ist er ein autoritärer Herrscher mit Anflügen von Cäsarenwahn. Es ist schwer vorstellbar, dass der 60-Jährige mit einem solchen Ruf im Sommer tatsächlich Staatspräsident werden kann. Außenpolitisch kann die Türkei ihren moralischen Führungsanspruch in der Nahost-Region und den Traum von einer EU-Mitgliedschaft erst einmal vergessen. Erdogan wird für seinen "Krieg" gegen Gülen einen hohen Preis zahlen müssen.

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