Kommentar Die Linie fehlt

Nach einem Jahr mit François Hollande an der Spitze des Staates ist niemand in Frankreich überrascht, aber jeder enttäuscht. Der sozialistische Präsident setzt um, was er im Wahlkampf versprochen hat - im Rahmen des Möglichen. Dass er dabei wenig Handlungsspielraum haben würde, war bekannt, die Erwartungen waren trotzdem übermäßig. Als erfahrener Wahlkämpfer, der er nun mal ist, hat Hollande sie selbst geschürt.

Weil Resultate seiner Versprechen einer Trendwende auf dem Arbeitsmarkt, der Sanierung des Staatshaushalts und einem Ende der Deindustrialisierung des Landes fehlen, fährt er einen massiven Vertrauensverlust ein. Die Ungeduld bei den Franzosen ist groß.

Bereits als Vorsitzender der Sozialistischen Partei war es Hollandes Stärke, Kompromisse zu finden auf Kosten eindeutiger Entscheidungen. Weil er das Land reformieren und gleichzeitig niemanden verschrecken will, den Staatshaushalt in Ordnung bringen möchte, ohne die Mittel- und Unterschicht zu belasten, die Unternehmen zugleich stärken und zur Kasse bitten will, entsteht der Eindruck eines Zickzack-Kurses, der die Frage aufwirft, wohin dieser Staatspräsident eigentlich steuert.

Hollande reibt sich auf zwischen dem Zwang zur Budgetdisziplin und den Erwartungen der Linken, die Konjunktur anzukurbeln. Nun verfehlt Frankreich seine Sparziele und erreicht trotzdem kein Wachstum. Den einen geht er mit seinen Maßnahmen nicht weit genug, den anderen zu weit. Er spricht von strukturellen Reformen, aber was er damit meint, ist unklar.

Die von seinem Vorgänger Nicolas Sarkozy mit dem Ziel in die Wege geleitete Erhöhung der Mehrwertsteuer, die hohe Abgabenlast für Unternehmen zu senken, nahm er zurück, um 2014 eine ähnliche Maßnahme mit anderem Namen einzuführen. Durch das Fehlen einer Linie entsteht Misstrauen, weil dieser Präsident Versprechen nicht hält, sondern im Nachhinein uminterpretiert.

Der Skandal um das illegale Auslandskonto des früheren Haushaltsministers Jérôme Cahuzac höhlte auch Hollandes Versprechen einer untadeligen Regierung aus, nach all den Korruptionsaffären unter den konservativen Vorgängerregierungen. Und hatte er versprochen, die Franzosen zu einen, so erreichte er mit der Einführung der Homo-Ehe das Gegenteil davon: Das Gesetz spaltete das Land wie lange nicht mehr.

Hollande wird überholt von diesen Entwicklungen und wirkt hilflos bei seiner Versicherung, er behalte seine Ziele fest im Auge. Seine Verteidigung mag berechtigt sein, die Probleme seien geerbt, nur mittel- oder langfristig lösbar und Frankreich stecke noch immer in der Krise. Ihm bleiben vier Jahre, um zu beweisen, dass er den Ausweg auch kennt.

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