Kommentar Die USA und das Waffenrecht - Gespenstisch
Es gehört zu den gespenstischen Ritualen in einem Land, das Europa zunehmend fremder wird. Nach jedem Schulhofmassaker, nach jeder Bluttat, die es länger als einen Tag in die Abendnachrichten der großen Fernseh-Sender schafft, kaufen Amerikaner das nächstbeste Waffengeschäft leer.
Aus Angst, Politiker könnten ihnen per Gesetz ihre Schießeisen wegnehmen. So war es, als 2008 der erste schwarze Präsident ins Weiße Haus gewählt wurde. So ist es, nachdem ein 17-jähriger, ebenfalls schwarz, in Florida auf dem Nachhauseweg durch eine eingezäunte Wohnanlage einem zur Selbstjustiz entschlossenen weißen Wachmann zum Opfer gefallen ist.
Dieser Reflex, im richtigen Augenblick das Falsche zu tun, war zuletzt zu beobachten, als vor einem Jahr ein Geisteskranker in Arizona sechs Menschen erschoss und die Kongress-Abgeordnete Gabriele Giffords lebensgefährlich verletzte. An ihrer herzzerreißenden Genesung richtete sich das Land über Monate auf und weinte Tränen der Rührung.
Vor den Ursachen für ihr Martyrium - grotesk lasche Waffengesetze - verschließt es die Augen. Darum das Schwarze-Peter-Spiel zwischen Medien, Politik und Polizeibehörden, seit Trayvon Martin tot ist. Und George Zimmerman, der Schütze, noch immer auf freiem Fuß. Trayvon Martin starb, weil die Allgegenwart von Waffen im Alltag bedrückend ist. Trayvon Martin starb, weil perverse Erst-schießen-dann-fragen-Gesetze existieren, die dem Individuum in über 20 Bundesstaaten juristische Immunität geben, wenn es sich subjektiv bedroht fühlt und von der Lizenz zum Töten Gebrauch macht. Amerika und seine Politiker fürchten die Debatte, die bei 13 000 Schusswaffen-Toten und 50 000 Schuss-Verletzten im Jahr überfällig ist, mehr als den islamistischen Terrorismus: Wie kann man verhindern, dass 300 Millionen Pistolen, Revolver und Gewehre in Privathaushalten immer wieder finalen Schaden anrichten?
Der richtige Verweis, dass die Freiheit zur Notwehr der kulturelle Gründungsmythos Amerikas ist, entwertet sich im vorliegenden Fall als ein von rücksichtslosen Lobbygruppen genährter Fluch der Industrie. Ohne Waffe hätte George Zimmerman die Notwehr-Situation gar nicht herbei provoziert, aus der er sich mit dem letzten Mittel befreit haben will. Amerikas Gründerväter würden heute auf die Barrikaden gehen. In dem von James Madison formulierten Teil der Verfassung, auf den sich die Revolverhelden berufen ("second amendment"), ist von individuellem Waffenbesitz oder - gebrauch nirgends die Rede.
Trotzdem hat der Oberste Gerichtshof den Waffen-Fetischisten den Rücken gestärkt und Versuche, den Besitz einzuschränken, untersagt. Eine Revision wäre die angemessene Reaktion auf den Tod von Trayvon Martin.