Kommentar zu den Erwartungen an 2016 Die zweite Hilfe

BONN · Das Jahr 2015 wird in die Geschichte eingehen als ein Jahr der Flucht nach und des Terrors in Europa. Und als ein Jahr des Versuchs, beider Entwicklungen Herr zu werden.

Das erste Thema ist untrennbar mit der deutschen Kanzlerin verbunden, das zweite mit den Terroristen des Islamischen Staates - und beide mit dem Krieg in Syrien. Die Fluchtwelle hat Europa, und insbesondere die Bundesrepublik, so gut wie unvorbereitet erreicht. Die Terrorgefahr hat Europa jahrelang ignoriert - so wie die gesamte Entwicklung in Syrien.

Deshalb war das Jahr 2015 so etwas wie das Jahr der ersten Hilfe. Besonders auffällig war das im Umgang mit den Flüchtlingen. Der spontanen Grenzöffnung, dieser großen Geste einer christlichen Barmherzigkeit, folgte das hektische Bemühen, die jeweils größte Not zu lindern. Bei den Flüchtlingen, aber auch beim Thema Innere Sicherheit. Angela Merkel fand sich - im zehnten Jahr ihrer Kanzlerschaft - in einer völlig ungewohnten Situation wieder: angefeindet und unverstanden im eigenen Land, unverstanden und isoliert in Europa.

Die Lage in ihrer Partei hat sie mittlerweile im Griff, auch weil sie von Woche zu Woche stärker über die Notwendigkeit von Begrenzung und Reduzierung der Flüchtlingszahlen sprach und weniger über die Chancen einer solchen Entwicklung. Doch dieser neue Realismus hat Merkel im Kern nicht wanken lassen, ihre Neujahrsansprache ist dafür der jüngste Beleg: Wir schaffen das.

Auch wenn immer mehr Menschen sich fragen, wie wir das schaffen sollen, erst recht, wenn die Flüchtlingszahlen nicht sinken sollten. Dann ist der ohnehin mühsame Frieden auf Parteitagen ganz schnell wieder dahin. Deshalb wird das kommende Jahr ein Jahr der zweiten Hilfe werden müssen, ein Jahr der planvolleren Antworten, als es dieses Jahr sein konnte. Auf vielen Gebieten: im Wohnungsbau, in der Bildung, in der Integration - und in Europa. Die Flüchtlingsthematik hat die Intensität, die europäische Einheit zu gefährden. Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten - das mag angehen, aber ein Europa des Gegeneinander sprengte sich selbst.

"Wir schaffen das" - ein Motiv, das man gern auch beim Terrorthema verwenden würde. Wenn es denn realistisch wäre. Aber das ist es nicht. Diese Mischung aus diplomatischem und militärischem Vorgehen, die die erste Reaktion nach den Attentaten von Paris kennzeichnete, war auch ein Zeichen der vorherrschenden Ratlosigkeit, wie dem Terror Paroli geboten werden kann.

Man muss nicht so weit gehen wie der Menschenrechtler und Flüchtlingshelfer Rupert Neudeck, der die Beziehungen zu Saudi-Arabien radikal herunterfahren will, weil das Land der Geldgeber des Terrorismus schlechthin ist. Aber auch hier ist eine klarere Politik erforderlich. Die bequemen Jahre sind in den USA schon seit 14 Jahren vorbei, in Europa sind sie es seit diesem Jahr auch.

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