Kommentar zum Asylrecht Ein Balanceakt

Berlin · Binnen eines Jahres hat sich die Zahl der Flüchtlinge und Asylbewerber in Deutschland mehr als vervierfacht. Die meisten wollen vor allem eines: bleiben. Die Aufnahme- und Hilfsbereitschaft ist aktuell groß, teilweise sogar sehr groß. Doch die Stimmung kann kippen. Ein Kommentar.

Die Zahlen, genauer gesagt, die Menschen hinter diesen Zahlen, haben Fakten geschaffen. Binnen eines Jahres hat sich die Zahl der Flüchtlinge und Asylbewerber in Deutschland mehr als vervierfacht: von 200 000 in 2014 auf mindestens 800 000 in 2015. Vermutlich werden es dieses Jahr sogar eine Million Flüchtlinge sein, die zu einem großen Teil ihr Leben nach Deutschland gerettet haben und die vor allem eines wollen: bleiben.

Womit man sehr schnell beim Grundgesetz, Artikel 16a, ist: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht", heißt es da. Dieses Grundrecht auf Asyl bleibt ein Grundrecht, unabhängig von der Zahl der Schutzsuchenden. Es kann keine Obergrenze für ein Grundrecht auf Asyl geben, hat die Kanzlerin eigens klargestellt. Doch die hohe Zahl der Schutzsuchenden wie auch eine nicht unerhebliche Zahl von Armutsflüchtlingen aus Staaten des Westlichen Balkans haben Deutschland unter erheblichen Handlungsdruck gebracht.

80.000 Flüchtlinge in nur einem Jahr kann das Land verkraften. Aber wie oft? Auch 2016? Noch einmal 2017? Und 2018 erneut? Man darf sich nichts vormachen. Die Aufnahme- und Hilfsbereitschaft ist aktuell groß, teilweise sogar sehr groß. Doch die Stimmung kann kippen. Aus Offenheit auf beiden Seiten kann sehr schnell Ablehnung werden, wenn große Teile der Mehrheitsgesellschaft sich überfordert fühlen. Wie hatte Vizekanzler Sigmar Gabriel noch nach jenem Wochenende gesagt, als Bundeskanzlerin Angela Merkel sich entschloss, Flüchtlingszüge unbürokratisch nach Deutschland zu lassen: Der Flüchtlingsstrom ist die größte Herausforderung seit der Deutschen Einheit. Das passt zum nächsten Ereignis. In wenigen Tagen feiert das vereinte Deutschland am 3. Oktober "25 Jahre Deutsche Einheit". Tag der Deutschen Einheit unter den Vorzeichen einer großen Flüchtlingsbewegung quer durch Europa.

Mit den vor gerade einer Woche getroffenen Beschlüssen des Flüchtlingsgipfels versuchen Bund und Länder wieder Ordnung ins System zu bringen. Ein Balanceakt. Sie beschleunigen Asylverfahren, stellen von Geld- auf Sachleistungen um, schaffen bürokratische Hürden bei der Einrichtung von Flüchtlingsunterkünften ab und verlängern die Liste sicherer Herkunftsstaaten. Die Ministerpräsidenten sind einigermaßen beruhigt, einige Oberbürgermeister ebenfalls.

Trotzdem ist all dies der CSU nicht genug, die weiter zündelt, Transitzonen an deutschen Grenzen ins Gespräch bringt, als hätte sie alsbald eine Landtagswahl zu bestehen. Doch in Bayern wird erst 2018 gewählt. Das Verhältnis zwischen CDU-Chefin Merkel und CSU-Chef Horst Seehofer ist an einem Tiefpunkt. Merkel agiert mit hohem Einsatz. Sie kann froh sein, das jetzige Gesetzespaket zur Asylpolitik in einer großen Koalition mit und nicht gegen die SPD durchzubringen.

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