Kommentar Europa, die Ukraine und Russland - Schwierige Nachbarn

Brüssel · Es ist wahrlich kein Glanzstück diplomatischer Kunst, das die Verantwortlichen der EU-Nachbarschaftspolitik in Sachen Ukraine hingelegt haben. Sie haben die Grundtugend jeder erfolgreichen Strategie im Umgang mit Dritten vermissen lassen: Dechiffrierkompetenz.

Es fehlt an der Fähigkeit, zu begreifen, was der andere will und wie er seine Ziele verfolgt. Bis unmittelbar vor dem Vilnius-Gipfel ging die EU davon aus, dass sie mit dem Partnerschaftsabkommen dem ukrainischen Präsidenten Janukowitsch eine attraktive Wohlverhaltensprämie anzubieten habe. Um dieses Preises willen werde er womöglich über seinen Schatten springen und seine Erzrivalin Timoschenko aus dem Gefängnishospital entlassen.

Eine Fehlkalkulation. Die EU-Oberen sind ratlos, was Janukowitsch getrieben haben mag, ein unter seiner Ägide ausgehandeltes Abkommen unerledigt zu archivieren. Die Pauschal-Antwort lautet: "Putin". Das ist plausibel, aber nicht präzise genug. Welche Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche es war, die der russische Präsident so wirksam zum Einsatz brachte; was davon Janukowitsch entscheidend beeindruckte; wie weit der ukrainische Staatschef gar nicht nationale, sondern persönliche Interessen im Auge hat - zu all dem gibt es viel Spekulation, aber wenig Gewissheit.

Janukowitsch ist die wichtigste Führungsfigur der "östlichen Partnerschaft". Ein Mann, mit dem die EU seit Jahren im Geschäft ist, entpuppt sich als undurchschaubar. Was ist eigentlich von dem zu halten? Ist er ein in der Wolle gefärbter Apparatschik, nur darauf aus, die vormalige Abhängigkeit seines Landes von Moskau unter anderen Vorzeichen wieder herzustellen?

Ein abgefeimter Poker-Spieler ohne ideologische Orientierung, aber mit feinem Näschen für Gewinnchancen? Oder ist er, wie er es den EU-Kollegen weismachen wollte, ein einsamer Kämpfer, der nichts lieber als "nach Europa" will, aber seit dreieinhalb Jahren "unter sehr ungleichen Bedingungen, Mann gegen Mann", mit den Russen fertig werden muss?

Eindeutiger als der Rätselmann Janukowitsch ist das, was sich auf dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew, tut. Dort artikuliert sich ein eindrucksvoller pro-europäischer Protest vor allem der jüngeren Generation. Daraus, immerhin, scheint die EU die richtigen Schlüsse zu ziehen: Das Angebot einer engen Partnerschaft muss die Absage durch Janukowitsch überdauern.

Was immer der Präsident im Schilde führt - die Zukunft wird er nicht mehr bestimmen. Vertrackter ist das Fundamentalproblem der EU-Ostpolitik, das hinter der Unsicherheit in Sachen Ukraine steckt: Wie umgehen mit den Ambitionen Russlands unter dem postimperialen Ehrgeizling Putin? Hier sucht die EU zwischen Einfühlsamkeit und harter Kante nach einer gemeinsamen Linie. Eine schöne Aufgabe für den künftigen Bundesaußenminister.

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