Kommentar Flüchtlingsdrama - Zum Beispiel Türkei

Istanbul · Die Regierung der Türkei steht auf vielen Feldern berechtigterweise in der Kritik. Doch bei einem Thema ist die Türkei ein Vorbild, auch für Europa. Bei der Aufnahme von Flüchtlingen zeigt das Land, dass man Hilfesuchenden mit Großzügigkeit und Solidarität begegnen kann statt mit Zurückweisung und der Zerstörung von Flüchtlingsbooten.

Der Konflikt beim Nachbarn Syrien hat die Türkei zum Land mit der weltweit höchsten Zahl von Flüchtlingen gemacht. Laut UN versorgt die Türkei am heutigen Weltflüchtlingstag 1,8 Millionen syrische Flüchtlinge.

Allein seit Anfang Juni sind mehr als 23 000 Menschen aus Syrien in die Türkei geflohen; mehr als zwei Drittel davon waren Frauen und Kinder. Damit hat die Türkei allein in diesem Monat fast fünfmal so viele Syrer aufgenommen wie das reiche Großbritannien in vier Jahren. Sechs Milliarden Dollar hat Ankara im Rahmen von Erdogans "Politik der offenen Tür" bisher für die Versorgung der Flüchtlinge ausgegeben.

Nicht nur die Zahlen sind bemerkenswert. Während in etlichen EU-Staaten rechtspopulistische Parteien mit flüchtlings- und ausländerfeindlichen Parolen reüssieren, existiert in der Türkei keine einzige politische Kraft, die "Nein zu Flüchtlingen" sagt. Es gibt keinen türkischen Geert Wilders. Anders als die EU-Mitglieder Griechenland und Bulgarien baut die Türkei auch keinen Zaun, um Flüchtlinge aus dem Land zu halten. Syrische Flüchtlinge haben Zugang zum türkischen Gesundheitssystem.

Zwar kritisiert die Opposition in Ankara die Syrien-Politik Erdogans heftig und macht den Präsidenten für die Misere jenseits der Grenze mitverantwortlich. Zudem gibt es auch in der Türkei zum Teil große Spannungen wegen der vielen Syrer, die zu Dumpinglöhnen arbeiten und mancherorts den Wohnraum knapp werden lassen. Auch verweigert die Türkei den Syrern einen offiziellen Flüchtlingsstatus, der ihre rechtliche Position stärken würde. Alles in allem aber reagieren die im Vergleich zu den Europäern nicht eben reichen Türken mit Mitleid und Verständnis auf die größte Flüchtlingswelle seit Jahrzehnten.

Solidarität mit den muslimischen Glaubensbrüdern und -schwestern aus Syrien spielt sicher eine Rolle, ist aber nicht das alles entscheidende Kriterium für die türkische Aufnahmebereitschaft. Syrische Christen und Jesiden werden ebenso ins Land gelassen wie Muslime.

Natürlich ist die Türkei als direkte Nachbarin der syrischen Tragödie bei der Hilfe für fliehende Menschen stärker gefragt als das ferne Europa. Doch die Europäer verhalten sich selbst bei Zuwanderern aus der eigenen Region längst nicht so großzügig wie die Türken, wie man an der Debatte über die Abschiebung von Asylbewerbern aus dem Balkan oder an der Diskussion über die Abweisung in Großbritannien sehen kann. Das gestrige Totengeläut im katholischen Erzbistum Köln ist da durchaus ein Zeichen des schlechten Gewissens. Das türkische Vorbild sollte die Europäer ermuntern, Flüchtlinge zu allererst als Menschen in Not zu betrachten, und nicht als potenzielle Bedrohung und Sozialschmarotzer. Im Umgang mit den fast zwei Millionen Syrern in ihrem Land machen die Türken vor, dass ein Land die Mitmenschlichkeit sehr wohl über andere Überlegungen stellen kann. Und zwar nicht nur am Weltflüchtlingstag.

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