Kommentar Flüchtlingspolitik: Ohne Tabus

Man kann auch große Reden zerreden. Oder: Kein Politiker, auch kein Bundespräsident, ist davor gefeit, dass seine Reden instrumentalisiert werden.

Der Bundespräsident hat am Wochenende eine große Rede zur Eröffnung der Interkulturellen Woche gehalten, die früher "Woche des ausländischen Mitbürgers" hieß, was direkter, klarer und ambitionierter war. Diese Rede ist, es geht medial nun mal nicht anders, verkürzt wiedergegeben worden als Warnung vor Illusionen in der Flüchtlingspolitik. Das war sie auch, aber das war sie nicht nur, so wenig übrigens wie die Entscheidung der Bundeskanzlerin, die Flüchtlinge aus Ungarn einreisen zu lassen, oder ihr Wort "Wir schaffen das" nur "Wohlfühlsprech" gewesen ist, wie manch CDU-Politiker jetzt abwertend meint.

Einer der zentralen Sätze des Bundespräsidenten lautet: "Es geht darum, eine kreative Haltung zu fördern, die nicht sagt, warum etwas unmöglich ist, sondern fragt, wie es möglich ist." Natürlich ist es leicht, jetzt zwischen der Bundeskanzlerin und dem Bundespräsidenten einen Gegensatz herzustellen. Wer daran aus parteipolitischen Gründen seinen Spaß hat, soll es tun. Aber eigentlich ist das Thema, um das es geht, dafür zu ernst. Angela Merkel ist viel zu sehr Realistin - wurde ihr nicht seit Amtsbeginn eine fehlende Vision vorgehalten? -, als dass sie die realen Schwierigkeiten, die die aktuelle Flüchtlingsbewegung schafft, übersehen würde.

Die sehr konkreten Entscheidungen der Politik auf Bundes- und Länderebene gerade in den vergangenen beiden Wochen zeugen auch davon. Aber sie ist - wie Joachim Gauck - weit entfernt davon, Abschottung und Ausgrenzung das Wort zu reden. Merkel und Gauck akzentuieren nur etwas unterschiedlich. Merkel lässt in einer konkreten Situation das Herz sprechen, Gauck versucht zu vermitteln. Er sagt: "Das zentrale Dilemma unserer Tage lässt sich nicht einfach vermeiden oder wegdiskutieren." Aber er bittet "die Besorgten und die Begeisterten" auch darum, sich "nicht gegenseitig zu denunzieren und zu bekämpfen".

Das ist ein tragfähiges Motto für die Arbeit der kommenden Monate: Die Flüchtlinge aufnehmen, auch in großer Zahl, wohl wissend, dass Deutschlands Möglichkeiten begrenzt sind und dass es nicht hilfreich, sondern hinderlich wäre, die Probleme zu verniedlichen, Tabus zu errichten. Kassel-Calden hat auch dies an diesem Wochenende gezeigt. Wo verschiedene Nationalitäten und Religionen auf engstem Raum zusammengepfercht leben müssen, gibt es Ausbrüche von Gewalt. Deshalb muss auf allen Ebenen konsequent flexibel, fantasievoll und schnell weitergearbeitet werden: bei der Erstverteilung, bei der Entscheidung, bei der Schul- und sonstigen Bildung, auch bei der Sicherheit und eben auch bei der Durchsetzung des Rechtsstaats. Ein epochales Ereignis (Gauck) fordert außergewöhnliche Reaktionen.

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