Kommentar zur Situation an den türkischen Grenzen zur EU Fünf vertane Jahre

Meinung | Berlin · Wieder versuchen Hunderte Migranten, von der Türkei aus nach Griechenland und damit in die EU zu gelangen. Die europäischen Verantwortlichen reagieren zwar jetzt eiligst auf die türkische Herausforderung der Grenzöffnung. Aber es spricht Bände, wie sie es tun, kommentiert Gregor Mayntz.

 Migranten und Flüchtlinge versammeln sich hinter einem Drahtzaun an der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei in der Nähe des geschlossenen Grenzübergangs Kastanies.

Migranten und Flüchtlinge versammeln sich hinter einem Drahtzaun an der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei in der Nähe des geschlossenen Grenzübergangs Kastanies.

Foto: dpa/Dimitris Tosidis

Die Bilder suggerieren eine Wiederholung: Wie im Herbst 2015 laufen im März 2020 Tausende von Flüchtlingen durch Südeuropa in der Erwartung, in Deutschland anzukommen.

Wie 2015 richten sich viele ihrer Hoffnungen auf Bundeskanzlerin Angela Merkel, die ihnen aus Schmutz, Kälte, Lebensgefahr heraushelfen möge. Und wie 2015 betreibt ein Staatsmann Politik auf dem Rücken von Migranten. Damals ließ Viktor Orban in Ungarn die Menschen in Bussen an die österreichische Grenze bringen. Heute macht es Recep Tayyip Erdogan in der Türkei.

Es gibt jedoch große Unterschiede: Damals war zunächst nur von wenigen Hundert Flüchtlingen die Rede, aus denen bald 10 000 am Tag wurden. Heute spricht Erdogan gleich von Millionen, die sich auf den Weg gemacht hätten. Damals bereiteten Tausende Münchner den Ankommenden einen herzlichen Empfang mit Bananen, Broten,  Teddybären. Heute gehen Rechtsextremisten in Griechenland mit ungehemmter Gewalt gegen Flüchtlinge, Helfer und Beobachter vor. Damals gab es noch kein EU-Türkei-Abkommen, heute weiß keiner, ob und wann sich Ankara wieder daran halten will. Damals war Deutschland auf einen Massenansturm nicht vorbereitet, heute gibt es reichlich Reserven, vor allem aber eine deutlich gestärkte EU-Grenzschutzpolizei.

Und doch ist eines gleich: Die EU kümmert sich nicht um ihre Nachbarschaft, und bekommt die Folgen nun wieder zu fühlen. Vier Jahre lang tobte seinerzeit schon der Bürgerkrieg in Syrien, hatte Millionen in die Flucht getrieben. Weitere fünf Jahre später dauert das Zuschauen an, werden die Zahlen jener Menschen registriert, die vor den syrischen und russischen Angriffen Schutz suchen.

Statt kraftvoll als Ordnungsmacht einen innersyrischen Verständigungskurs auf den Weg zu bringen, hat Europa Kriegsverbrechern das Feld überlassen. Dass dies mit einer neuen Flüchtlingsdynamik einhergehen würde, war nur eine Frage der Zeit.

In der Vergangenheit übte die Ordnungsmacht USA mit ihrer überwältigenden wirtschaftlichen und militärischen Kraft politischen Druck auf Verständigungslösungen aus. Sowohl wirtschaftlich als auch militärisch würde ein einiges Europa den USA kaum nachstehen und wäre politisch in der Lage, die Ursachen der Flucht aus der Welt zu schaffen.

Die europäischen Verantwortlichen reagieren zwar jetzt eiligst auf die türkische Herausforderung der Grenzöffnung. Aber es spricht Bände, wie sie es tun. Sie bringen nicht das Gewicht von 500 Millionen Bürgern und der größten Wirtschaftsmacht ein, um den Bürgerkrieg zu beenden. Sie reisen stattdessen an die griechisch-türkische Grenze, um sich aus nächster Näher das Chaos anzuschauen, das sie in den letzten fünf Jahren hätten verhindern müssen.

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