Kommentar Große Koalition - Rückwärts

Erst das Land, dann die Partei. Was wäre es für die Deutschen beruhigend, wenn die Verhandlungen um die große Koalition nach diesem Grundsatz verlaufen würden.

Die Hoffnung: Union und SPD nehmen ihre Verantwortung wahr, einigen sich auf die großen, zukunftsweisenden, nachhaltigen Themen - etwa in der Sozial-, Umwelt- oder Finanzpolitik. Sie klären den Reformbedarf, legen die Ziele fest und vereinbaren die Regeln und Anreize. Sie planen mit der großen Koalition einen großen Wurf, weil sie über die große Mehrheit verfügen. Und weil es, ganz am Rande, dem Wählerwillen entspricht. Dabei berücksichtigen sie auch die Parteilinien und -interessen. Denn die Schnittmengen sind allemal ausreichend. Bloße Theorie? Unrealistisch, weltfremd?

Die Praxis: Ein orientalischer Basar ist nichts gegen das, was derzeit in Berlin läuft. Groß und größer werden die Kommissionen und Arbeitskreise, klein und kleiner werden die Ergebnisse - logisch, bei der steten Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Und weil man es sich in der jetzigen Situation mit den Menschen und vor allem mit der eigenen Partei nicht verscherzen will (schließlich braucht die SPD sogar noch die Mehrheit in der Mitgliederbefragung!), darf es mit den Wohltaten immer noch ein bisschen mehr sein.

Hier der gesetzliche Mindestlohn, dort das teilweise Zurückdrehen der Arbeitsmarktreformen, hier teure Rentenzusagen, dort zusätzliche (und teure) Leistungen in der Pflegeversicherung. Die Frauenquote in den Aufsichtsräten ist beschlossen, Streit gibt es weiterhin in der Gesundheitspolitik. Auch hier könnte es noch einmal kostspielig werden. Erschwerend kommt hinzu, dass das Jahrhundert-Projekt Energiewende mit immensen Kosten und staatlichen Fehlanreizen weiterhin unkorrigiert in die falsche Richtung steuert. Die Verbraucher werden es bald noch stärker zu spüren bekommen.

Bundeskanzlerin Merkel und Unionsfraktionschef Kauder weisen, angesichts der harschen Kritik von Wirtschaftspolitikern in der Union, von Wirtschaftsweisen und Arbeitgebern, stets darauf hin, dass man die Verhandlungsergebnisse erst dann bewerten solle, wenn sie komplett vorliegen. Das klingt nachvollziehbar. Allerdings ist schon jetzt klar, dass die bisherigen Vereinbarungen die Wirtschaft spürbar belasten werden.

Die rot-grüne Agenda 2010 der Kanzlerschaft Schröder war hart erkämpft, schmerzhaft, zum Teil fehlerhaft, aber unterm Strich richtig und erfolgreich. Statt deren Fehler zu korrigieren und etwa in der Leih- und Zeitarbeit nachzubessern, haben Union und SPD den Rückwärtsgang eingelegt. Alles deutet derzeit auf eine rückwärtsgewandte Politik hin: Allen wohl und keinem wehe - das ist bequem, aber falsch.

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