Kommentar Indien - Stimme der Vernunft
Es war höchste Zeit, dass Indiens oberster Richter, Altamas Kabir, die Stimme der Vernunft erhob und vor der "Lynch-Mob-Mentalität" warnte.
Denn bei aller Wut über das brutale Verbrechen und bei aller Sympathie für das Opfer, seine Angehörigen und das schwierige Leben der indischen Frauen: Die Emotionen nahmen teilweise bedenkliche Ausmaße an.
Auch in Indien gelten Angeklagte als unschuldig, solange ihre Schuld nicht bewiesen ist. Die Beweislage mag im Fall der Sechser-Bande eindeutig sein. Aber der legale Prozess muss auch in einem solchen Fall seinen normalen Lauf nehmen. Indien bewegt sich derzeit auf gefährlichem Terrain.
Denn das inoffizielle Moratorium der Todesstrafe, das lange gegolten hatte, wurde mit der Hinrichtung des Bombay-Attentäters Ajmal Kasab aufgehoben. Inder mit kühlem Kopf hatten gehofft, dass die Erhängung des Terroristen eine Ausnahme bleiben würde. Die brutale, tödliche Vergewaltigung könnte Regierung und Behörden zu mehr Exekutionen verführen.
Schließlich stehen Wahlen an und der Galgen ist ein ebenso archaisches wie populistisches Mittel, um Stimmen zu sammeln. Es ist kein Zufall, dass der Ruf "Tod für Vergewaltiger" aus der Mittelklasse kommt, einer Gruppe, die überall in der Welt Recht und Ordnung mit hartem Durchgreifen gleichsetzt.
Dabei wird gerne vergessen, dass die Todesstrafe oft für zweifelhafte politische Zwecke missbraucht wird und wurde. In Indien starben zu Zeiten der britischen Kolonialmacht Menschen am Galgen, deren einziges Vergehen darin bestand, Unabhängigkeit zu fordern.