Kommentar Indien - Wutausbrüche
BANGKOK · So was können sie, die alten Herrschaften der indischen Regierung: Sie boten Tausende von Polizisten auf, um die junge Frau hinter dem Schleier dichter Nebelschwaden in aller Herrgottsfrühe einzuäschern, die am Wochenende an den Folgen einer brutalen Vergewaltigung gestorben war.
Erst war die Öffentlichkeit bis Mitte vergangener Woche mit falschen Informationen über den ernsten Gesundheitszustand in die Irre geführt worden, um Proteste einzudämmen. Dann scheute Delhi keine Mühe, um die Inder von einer Teilnahme an der Bestattung abzuhalten.
Wenn Regierung und Behörden so viel Sorgfalt nur im Alltag beweisen würden. Während Politiker und Geschäftsleute Investoren aus dem Ausland mit wunderbaren Geschichten über ökonomische Chancen umschmeicheln, behandeln sie die Bevölkerung - vor allem aber Indiens Frauen - als Verfügungsmasse für ihre Interessen.
Der Verpflichtung, die eigenen Staatsbürger zu schützen, kommt Delhi gern in Form von vollmundigen Reden über atomare Aspirationen, regionale Ausdehnung und protzigem Muskelspiel in der Weltdiplomatie nach. Tunlichst wird vergessen, erst einmal den Schmutz vor der eigenen Haustür wegzukehren.
Die Proteste nach der brutalen Vergewaltigung stellten bereits den zweiten gewaltigen Zornesausbruch der indischen Mittelklasse seit Anfang 2011 dar. Im vergangenen Jahr stand die Regierung bereits rat- und sprachlos vor den Wutausbrüchen über Vetternwirtschaft und Korruption. Wenn dies so weitergeht, verliert die größte Demokratie der Welt bald völlig ihre Glaubwürdigkeit.