Kommentar Jahrestag der großen Koalition: Szenen einer Ehe

Selbstlob kann verräterisch sein. Wenn Kanzleramtsminister Peter Altmaier zum ersten Jahrestag der großen Koalition stolz verkündet, 80 Prozent des Koalitionsvertrages seien "abgearbeitet", kann das heißen: Diese Koalition hat viel geleistet. Oder aber: Diese Koalition hat nicht mehr viel vor.

Beide Feststellungen treffen zu. Gerade die SPD als Juniorpartner hat seit dem vergangenen Herbst ein Regierungstempo vorgelegt, das viele hat staunen lassen: Rente mit 63, Mindestlohn von 8,50 Euro, Mietpreisbremse und Frauenquote - um nur ein paar Beispiele zu nennen. Dass diese Wohltaten, ergänzt um den Unionswunsch nach mehr Mütterrente, den großen Reformerfordernissen dieser Gesellschaft eher zuwiderlaufen, dass auch sie zu Lasten der kommenden Generationen finanziert werden, geht dabei zu leicht unter. Anders gesagt, die große Koalition hat im ersten Jahr vor allem eines gemacht: ihre Wahlversprechen umgesetzt. Das ist einerseits löblich, weil Politik endlich mal nicht nach dem Motto verfährt: Es gilt das gebrochene Wort. Aber andererseits verfehlt, weil eine große Koalition eine Koalition für große Aufgaben, nicht eine für große Ausgaben sein sollte.

Doch da gibt es nur Fehlanzeigen. Diese Koalition packt keine einzige große Reformaufgabe an, sieht man einmal von dem großen Reparaturbetrieb Energiewende ab. Sie hätte die Gestaltungsmöglichkeiten, aber sie gestaltet nicht. Sie verwaltet - und die immer noch gute Konjunktur macht es ihr leicht. Schäubles schwarze Null ist keine Konsolidierungsleistung, sondern das Ergebnis heimlicher Steuererhöhungen.

Die Kanzlerin weiß das. Aber sie hat derzeit Wichtigeres zu tun, und das macht sie im Urteil der Bürger und im Urteil des Auslandes gut. Im Verein mit Frank-Walter Steinmeier ist sie so gut wie pausenlos dafür tätig, den Frieden auf dem Kontinent zu erhalten, was den unablässigen Versuch bedeutet, Wladimir Putin in die Schranken zu weisen. Das ist in der Tat wichtiger, als die nächste Verästelung der innerdeutschen Mautdebatte zu moderieren. Und das ist eine Leistung, für die sie zu Recht Anerkennung findet, auch wenn hier die Erfolge auf sich warten lassen. Schlimmeres verhütet zu haben, ist auch schon etwas...

Innenpolitisch ist Altmeiers 80-Prozent-Bilanz Stoff genug für neue Kontroversen. Die SPD wird für ihren Aktionismus vom Wähler überhaupt nicht belohnt. Und die Kanzlerin straft sie zusätzlich mit demonstrativen Bekenntnissen zur FDP oder gar zu den Grünen ab. Das macht nicht nur den SPD-Vorsitzenden nervös. Sigmar Gabriel spürt, dass selbst die rot-rot-grüne Thüringen-Variante ihm nicht helfen wird auf dem Weg zur Macht. So steht der Geburtstag der großen Koalition denn unter einem schlechten Stern: Das bisschen Arbeit ist getan, die Partner gehen schon jetzt auf Abstand - und die nächste Wahl ist noch drei Jahre hin. Das "Weiter so" wird quälend werden.

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