Kommentar zu den weltweiten Flüchtlingszahlen Ritual der Not

Meinung | Genf · Die Vereinten Nationen haben einen historischen Höchststand festgestellt: Fast 80 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Das ist ein jährlich wiederkehrender Spiegel politischer Unfähigkeit, kommentiert der GA-Chefredakteur.

 Seenotretter der SOS Mediterranee halten Rettungswesten für in Seenot geratenen Migranten im Mittelmeer bereit.

Seenotretter der SOS Mediterranee halten Rettungswesten für in Seenot geratenen Migranten im Mittelmeer bereit.

Foto: dpa/Renata Brito

Das Ganze ist ein Ritual, ein Ritual des Elends und ein jährlich wiederkehrender Spiegel politischer Unfähigkeit. Zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni veröffentlicht die Uno aktuelle Zahlen, wie viele Menschen gezwungenermaßen ihre Heimat verlassen mussten. Die Gründe sind vielfältig. Es gibt Vertreibungen aus religiösen oder ethnischen Gründen. Es gibt wirtschaftliche Ursachen. Kriege machen ganze Länder unbewohnbar. Missernten und Dürren führen Hunderttausende in Hungersnot. Naturkatastrophen zerstören Häuser und Felder. Wir bekommen von vielen dieser Dramen gar nichts mit, weil die Aufmerksamkeitsschwelle immer höher wird.

Und Europa? Die Bilder von überfüllten Flüchtlingslagern oder sinkenden Schiffen voller hilfloser Menschen sind in den vergangenen Wochen nicht mehr so häufig zu sehen gewesen. Das Thema Corona drängte in den Vordergrund. Das heißt nicht, dass es diese Bilder nicht mehr gibt. Im Gegenteil. Über 80 Millionen Menschen sind derzeit auf der Flucht, leben in Lagern oder Behelfsunterkünften. Was von diesen Menschen nach Europa und dann nach Deutschland kommt, ist eher ein sehr kleiner Teil, denn die meisten Menschen bleiben in der Nähe ihrer Heimat. Sie wollen möglichst schnell zurück. Die Weltgemeinschaft bekommt das Thema nicht in den Griff. Sie scheitert daran, wenigstens die politisch vermeidbaren Fluchtbewegungen einzudämmen. Europa selbst macht eine jämmerliche Figur und tut alles, die Grenze für möglichst viele Flüchtlinge zu schließen. Die Gemeinschaft kann sicher nicht allen helfen, aber sie tut weniger als sie könnte, um den inneren Frieden und eine angespannte Ruhe nicht zu gefährden. Das steht im Widerspruch zu den Werten, die immer gerne bemüht werden, wenn das Verbindende des Kontinents beschworen werden soll.

Eigentlich müsste es allen grausen: Ein unaufhaltsam wachsendes Problem steht einer an Lösungen nicht interessierten Politik gegenüber. Man mag jetzt über Details und das Für und Wider einer aktiveren Flüchtlingspolitik diskutieren. Das ist jedoch nicht der Punkt. In der sachlichen Bilanz führt diese Untätigkeit nämlich zu noch weit größeren Schwierigkeiten. Die Flüchtlinge werden nicht einfach verschwinden. Im Gegenteil, es werden mehr. Das ist nicht die Schuld dieser Menschen. Die Politik muss sich dieser Problematik endlich stellen, sonst wird sie in nicht allzu ferner Zukunft davon einfach überrollt.

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