Kommentar Lage der EU am Jahreswechsel: Verzagte Union

Auf den Aufbruch nach der Erneuerung durch die Europawahlen hatte man gehofft. Stattdessen musste die EU erleben, dass schon die Verhinderung des Abbruchs viel Kraft kostet.

Auf den Aufbruch nach der Erneuerung durch die Europawahlen hatte man gehofft. Stattdessen musste die EU erleben, dass schon die Verhinderung des Abbruchs viel Kraft kostet. Die Union bräuchte nicht nur einen Jahreswechsel, sondern eine Zeitenwende. Um jene zu entlarven, die Europa lieber heute als morgen den Garaus machen wollen. Denn die Rückkehr zum nationalen Egoismus taugt nicht als Zukunftsperspektive.

Wer dem widerspricht, braucht sich nur umzusehen: Diese verzagte Gemeinschaft erlebt sich wieder als bedroht. Von außen durch die völkerrechtswidrigen Eskapaden Russlands, durch die energiepolitische Abhängigkeit von Moskau. Von innen durch die Wellen derer, die die internationalen Konflikte in unser Land spülen und denen inzwischen immer offener Ablehnung und Widerstand entgegenschlagen. Den Raum der Freiheit, des Wohlstands und des Friedens hatte man sich anders vorgestellt - nicht nur von außen, auch von innen.

So steht diese Union einmal mehr vor den gewaltigen Herausforderungen, die längst hätten gelöst werden müssen. Europa ist keine Oase geworden, in der die Globalisierung ohne Opfer abgefedert wird. Diese Union hat längst ihre Opfer. Zu viele Mitgliedstaaten predigen einen ungebremsten Protektionismus als einzigen Lösungsweg.

Als ob Frankreich, Italien, Spanien oder Griechenland in der Lage wären, mit den Herausforderungen alleine fertig zu werden. Das würde nicht einmal dem Musterschüler Deutschland gelingen.

Inzwischen hat in nahezu allen Gremien eine neue Mannschaft das Ruder übernommen, neue Strukturen geschaffen und sogar ein Arbeits- und Investitionsprogramm vorgelegt, das zumindest ein paar Schlagzeilen hergibt. Doch schon wieder geht alles langsam, bedächtig, viel zu behäbig, als dass das, was man da plant, zu einer Hoffnung für die Menschen werden könnte. Warum die Staats- und Regierungschefs bei ihrem Dezember-Gipfel zwar über die neuen Projekte sprachen, aber erst in sechs Monaten entscheiden wollen, ist nicht zu begreifen. Als ob Arbeitslose Zeit hätten.

Das Kopfschütteln darüber verstärkt zwei beängstigende Strömungen, denen die Union bisher nicht Herr wird. Da sind zum einen die Kritiker und Gegner, die sich weiter leicht tun, die EU als Monstrum voller leerer Versprechungen zu verunglimpfen. Und da ist zum anderen das wachsende Misstrauen in die Politik - ablesbar an der tiefen Kluft, die zwischen den Widerständlern gegen das Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada sowie den Befürwortern klafft.

Selbst die, die an den Verhandlungen teilnehmen und die Fakten kennen, erreichen die verunsicherten Bürger nicht mehr, die im Zweifel den Ängsten glauben, die Kritiker schüren. Wenn Politik aber nicht einmal mehr Informationen transportieren kann, zerfällt das, was man Gemeinschaft nennt.

Die neuen Vertreter dieser Union haben geschworen, diesen Zerfall des europäischen Einigungsgedankens durch mehr Transparenz und Verlässlichkeit zu stoppen. Das klingt nicht nur gut, es ist überfällig. Weil nur eine glaubwürdige europäische Politik wieder jenes Bewusstsein für diese Gemeinschaft schaffen kann, das am Anfang stand: die Gewissheit, dass die Völker Europas zusammen stärker sind als jeder alleine.

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