Kommentar Lebensmittelvernichtung - Der Bluff wirkt nicht

Moskau · Die Lautstärke ist enorm. Seit Tagen vernichten die russischen Behörden Lebensmittel aus EU- und Nato-Staaten. Vor laufenden TV-Kameras walzen Planierraupen Pfirsiche und Käse in den Dreck, Fleisch wird verbrannt, allein am ersten Tag rapportierte die Aufsichtsbehörde Rosselchosnadsor, man habe über 290 Tonnen, landwirtschaftlicher Produkte liquidiert, also knapp 30 Lkw-Frachten.

Und das auf persönlichen Ukas des Staatspräsidenten Wladimir Putins. "Die Lebensmittel werden nicht einfach vernichtet", schreibt die Internetzeitung Medusa, "sie werden öffentlich hingerichtet." Gleichzeitig legt das Handelsministerium eine erweiterte Embargoliste medizinischer Westwaren vor, von Krücken, Zahnarztinstrumenten, Silikonbrutprothesen bis zu Tampons und Kondomen. Landwirtschaftsminister und Präsidentenberater erklären, beide Maßnahmen schützten die Gesundheit des Volkes.

Das Volk aber reagiert diesmal eher mit Unverständnis. Hunderttausende Bürger unterschrieben eine Petition, die fordert, die beschlagnahmten Landwirtschaftsprodukte nicht zu vernichten, sondern an Bedürftige zu verteilen. Liberale und kommunistische Duma-Abgeordnete streiten, ob der feindliche Westen Russland mit infiziertem Parmesankäse vergiften möchte, oder ob man die Lebensmittel nicht besser den ostukrainischen Rebellenrepubliken schicken sollte. Und Moskaus liberale Blogger erinnern sich massenhaft an vom Nachkriegshunger geprägte Großmütter, die noch immer jeden Brotkrumen auflesen, um ihn fürs Paniermehl zu trocknen.

Alle rätseln. Was bezweckt die Staatsmacht mit der Massenhinrichtung von Obst und Gemüse? Ein heidnisches Opferritual? Das Vernichten geldwerter Lebensmittel kommt beim heimischen Publikum als ziemlich sadomasochistisches Ritual an. Zumal viele Russen argwöhnen, nach ein paar Tagen spektakulärer Verbrennungskampagne gingen die beteiligten Behörden wieder dazu über, die seit einem Jahr verbotenen Westlebensmittel an Schwarzgroßhändler zu verschieben.

Der Kreml scheint es mit der Massenhinrichtung von Obst- und Gemüse dem Rest der Welt zeigen zu wollen. Zumindest dem Teil dieser Welt, der selbst Sanktionen gegen Russland verhängt hat. Wie im Mittelalter, als die Verteidiger belagerter Burgen ihre Feinde mit üppigen Fleischresten bewarfen, um zu demonstrieren, dass man sie nicht aushungern könne.

Aber der Bluff überzeugt nicht. Was hilft es Russland, dass sich laut Agrarministerium die Lebensmittelimporte seit dem Beginn des Embargos halbiert haben. Die eigene Landwirtschaft, die davon hätte profitieren sollen, wuchs dieses Jahr nur um 2,9 Prozent, die Preise aber stiegen um 20 Prozent, Bruttoinlandsprodukt und Rubel rutschen weiter in den Keller. Die Zahl der Mütterchen, die jeden Brotkrumen auflesen, droht wieder zu wachsen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Jana Marquardt
zu Arbeitslosen in Deutschland
Viel Potenzial bei Ungelernten
Kommentar zur ArbeitslosenquoteViel Potenzial bei Ungelernten
Eine andere Welt
Kommentar zu den weltweiten Militärausgaben Eine andere Welt
Zum Thema
Noch nicht aufgewacht
Kommentar zum Treffen zwischen Scholz und Sunak Noch nicht aufgewacht
Nur Warten reicht nicht
Kommentar zur Frühjahrsprognose Nur Warten reicht nicht
Falsche Zeichen
Kommentar zum Treffen von Steinmeier mit Erdogan Falsche Zeichen
Aus dem Ressort