Kmmmentar Litauens Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft ist historisch

Für sich genommen ist der Wechsel des Vorsitzes in der Europäischen Union Routine. Er wird turnusgemäß vollzogen. Außerdem hat die "rotierende" Präsidentschaft der EU an politischer Bedeutung verloren: Bei den Regierungschefs, Außen- und Finanzministern geben jetzt andere den Ton an. Vor diesem Hintergrund droht unterzugehen, dass der vermeintlich banale Vorgang - Irland übergibt an Litauen - diesmal eine historische Bedeutung hat.

Sie liegt zum einen an den beiden Premieren, auf die bei den Übergabefeiern in Vilnius immer wieder hingewiesen wurde: Noch nie war die EU so groß wie jetzt, zum Halbjahreswechsel wurde Kroatien Mitglied Nr. 28. Und noch nie hat ein baltisches Land die Gemeinschaft gemanagt. Doch der eigentlich bemerkenswerte Zusammenhang ist ein anderer: Zum ersten Mal wird die EU, diese Kernformation dessen, was der politische Jargon "den Westen" nennt, von einer früheren Sowjetrepublik geführt.

Der EU-Beitritt Litauens liegt noch kein Jahrzehnt zurück, gerade einmal 23 Jahre sind seit der Unabhängigkeit vergangen. Es war eine Berg- und Talfahrt. Nach einem verheißungsvollen Start kam mit der Finanzkrise der Absturz. Die Wirtschaft schrumpfte um fast 15 Prozent, die Arbeitslosigkeit schoss in die Höhe. Mehr als ein Zehntel der Bevölkerung von knapp 3,4 Millionen Menschen wanderte aus in Richtung Westen. Im vergangenen Jahr lag die Arbeitslosigkeit noch immer bei 13,2 Prozent. Doch die Schlüsseldaten zeigen einen positiven Trend.

Kein Wunder, dass Litauen als Beispiel und Bestätigung für den eigenen Kurs gilt: Die Krise ist überwindbar! Sparsamkeit und klaglose Reformbereitschaft sind die wichtigsten Voraussetzungen! Das aber ist ein verengter Blick. Die EU ist nicht nur eine heikle Verbindung nördlicher Knauser und südlicher Luftikusse, und Litauen ist nicht nur Musterschüler Brüsseler und Berliner wirtschaftspolitischer Lehrpläne. Litauen hat mehr zu bieten: eine einzigartige Erfahrung mit dem großen Nachbarn im Osten. Die hat keineswegs in hysterische Russenfurcht gemündet, sondern in einen vernünftigen, illusionslosen Pragmatismus. Dessen Wert steigt, je frostiger die Beziehungen zwischen Moskau und Washington werden.

Und Litauen steht zum Projekt der europäischen Integration. Bei der großen Feier in Vilnius war das deutlich zu spüren: Im Schatten der unberechenbaren Großmacht Russland wird der Idee einer Einigung im Zeichen von Liberalität, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie ein Respekt entgegengebracht, der in den abfälligen Debatten weiter westlich oft verloren geht. Dort wäre man gut beraten, den neuen Vorsitzenden nicht mit herablassendem Wohlwollen zu begleiten. Von Litauen ist mehr zu lernen als Haushaltsdisziplin.

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