Mehr Respekt, bitte!

Friede, Freude? Pustekuchen! Nach dem Desaster um Christian Wulff hat sich eine All-Parteien-Koalition minus Linke in kürzester Zeit auf den "Kandidaten der Herzen" geeinigt. Es wäre eine geradezu traumhafte Grundlage gewesen, auf der die Bürger neues Vertrauen nicht nur in das ramponierte Amt des Bundespräsidenten hätten investieren können, sondern auch in das Funktionieren unseres politischen Systems insgesamt.

Die Botschaft hätte sein können: Wenn es darauf ankommt, dann ziehen die Demokraten an einem Strang und stellen die Belange des Staates über parteitaktische Interessen.

Doch die Wahrheit sieht für jeden erkennbar anders aus. Die Union wirft der FDP Erpressung vor, und Regierung und Opposition streiten sich darüber, wer hier eigentlich etwas gewonnen oder verloren hat. Hat die Kanzlerin eingelenkt? Ist sie umgefallen? Oder war sie schlicht die Klügere, die nachgibt, am Ende aber eine süße Niederlage einfährt, weil der liberal-bürgerliche Kandidat (auch) den Roten und Grünen eher schadet als nutzt?

Die ganze Diskussion offenbart, dass der Anspruch, eine überparteiliche Lösung zu finden, leider zu keinem Zeitpunkt von irgendeiner Seite ernst gemeint war. Dabei verspielen die Parteien nicht nur den letzten Rest an Vertrauen. Sie zerreden auch den von ihnen nominierten Bundespräsidenten, bevor der überhaupt gewählt ist, weil er ja vielleicht doch ein Vertreter des je anderen Lagers sein könnte. Wie absurd!

Die Geschäftsführerin der Grünen, Steffi Lemke, zum Beispiel hätte lieber geschwiegen, als jetzt in einem Zeitungsinterview zu Protokoll zu geben, Joachim Gauck hätte Thilo Sarrazin in der Debatte um sein umstrittenes Buch "Deutschland schafft sich ab" nicht wegen dessen Mut loben dürfen.

In Wahrheit hatte sich Gauck von der biologistischen Argumentation Sarrazins nämlich distanziert; gut fand Gauck allein, dass ein sonst von den Parteien tabuisiertes Thema offen angesprochen wurde. Frau Lemke sollte sich genauer informieren, bevor sie den mahnenden Zeigefinger hebt. Ähnliches gilt für angeblich neoliberale Positionen Gaucks zur Occupy-Bewegung.

Den Oberlehrern der Nation sei geraten: Erst lesen oder zuhören, dann urteilen. Gauck gehört zum Glück zu jenen Menschen, die sich differenziert äußern, so dass das Herausreißen einzelner Zitate aus dem Zusammenhang überdurchschnittlich oft den Sinn verfälscht.

Der Mann verfügt über so viel Tiefgang, dass er in keine politische Schublade passt. Er ist nicht einfach nur konservativ oder liberal oder sozial. Das einzige Etikett, das ihm gerecht wird, trägt die Aufschrift "Gauck". Kann es eine bessere Voraussetzung für einen unabhängigen Bundespräsidenten geben, der konkrete Anstöße gibt, ohne sich im parteipolitischen Kleinklein zu verlieren?

Den Peinlichkeits-Preis hat freilich die CSU verdient. Dort wird kommuniziert, aus der - Zitat - "Kröte Gauck", die die Union habe schlucken müssen, könne "noch ein Entrecôte werden". Das offenbart, bei allem verständlichen Ärger über die FDP, eine unfassbare Respektlosigkeit gegenüber Joachim Gauck. Wenn der erzkonservative Christsoziale Norbert Geis dann auch noch allen Ernstes den "guten Rat" parat hat, Gauck solle mit Blick auf seine "wilde Ehe" seine "persönlichen Verhältnisse ordnen", dann fällt einem dazu nichts mehr ein.

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