Kommentar Nach der Europawahl - Im Hinterzimmer

Der Wähler hat gesprochen - aber was genau hat er gesagt? Auf europäischer Ebene ist er noch schwerer zu verstehen als auf nationaler. "Der Wähler", das geheimnisvolle Gesamtwesen, ist in der EU eine Summe aus 28 Staaten, deren Bürger eine Fülle eigener Beweggründe in Kreuzchen umsetzen. Aus dem Mix-Resultat einheitliche Botschaften zu entziffern, erfordert Mut zur Phantasie.

Immerhin: Ein paar große Linien sind erkennbar: Die Mehrheit der Wahlbürger hatte Besseres zu tun, als sich um die Zusammensetzung ihrer Volksvertretung zu kümmern. Unter denen, die sich zum Gang an die Urne aufrafften, ist ein Drittel mit dem Angebot der Parteien, die traditionell das Europa-Geschäft betreiben, nicht zufrieden.

Teilweise weil sie die Geschäfte lieber anders betrieben sähen, teilweise weil sie die Schließung des ganzen Ladens wünschen. Was umgekehrt heißt: Die immer noch große Mehrheit steht hinter einer funktionstüchtigen EU, wenn auch mit unterschiedlichen Vorstellungen, worauf die sich konzentrieren sollte.

Alles weitere ist derzeit Kaffeesatz-Leserei. Nur in einem Punkt sind Fakten geschaffen worden: Die 751 Mandate im Straßburger Plenum sind verteilt (oder werden es definitiv sein, sobald die letzten Stimmen ausgezählt sind). Das ist die Ausgangslage für die anstehende Kür des Brüsseler Kommissionschefs, gemeinsam zu vollziehen durch das Parlament und den Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs.

Die eigentliche Entscheidung war erstmals dem Souverän persönlich zugestanden worden. Nach dem Motto: Wir präsentieren euch Spitzenkandidaten, ihr wählt einen aus, der wird's! Das war parteiübergreifendes Versprechen im Wahlkampf. Viel spricht dafür, dass es gebrochen wird.

Der Schlüssel liegt bei den Sozialdemokraten und ihrem Spitzenkandidaten Martin Schulz. Der hat aus der Europa-Wahl einen bemerkenswerten persönlichen Erfolg gemacht. Unter seiner Führung hat die SPD in Deutschland kräftig zugelegt, die europäische Dach-Partei SPE den Abstand zur christdemokratischen EVP beträchtlich verringert. Die Nase vorn haben die Euro-Sozen freilich nicht, und das wird sich aller Voraussicht nach auch nicht ändern, wenn sich die Fraktionen endgültig formiert haben.

Schaun wir mal, sagt Schulz - es komme darauf an, wer eine Mehrheit zusammenbringe. Dafür sind die beiden großen Fraktionen freilich aufeinander angewiesen. Weder ist eine stabile Mitte-Rechts-Mehrheit (ohne SPE) in Sicht, noch ein verlässliches Mitte-Links-Bündnis (ohne EVP).

Selbst zusammen bilden sie eine ziemlich kleine große Koalition, mit gerade einmal 403 von 751 Sitzen. Warum das Parlament unter diesen Umständen Merkel & Co. den Kandidaten Schulz als seinen Mehrheitswunsch präsentieren sollte, ist unerfindlich. Schulz kann lediglich mithelfen, den - bei der Kanzlerin nicht wohlgelittenen - Juncker im Europäischen Rat durchzusetzen.

Das wäre der Durchbruch des Spitzenkandidaten-Verfahrens, für das keiner vehementer gestritten hat als Schulz. Natürlich können er und seine Sozialdemokraten für ihre Mitwirkung einen Preis verlangen. Das Feilschen darüber hat begonnen - in eben dem Hinterzimmer, das Schulz im Wahlkampf als antidemokratische Dunkelkammer verschrien hat. Jetzt hat er selber darin Platz genommen. Glaubwürdig heraus kommt er nur mit einem Deal zugunsten Junckers.

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