Kommentar zur Krisenbewältigung Neue Koalitionen

Helmut Schmidt, von dem die Welt gestern in Hamburg Abschied genommen hat, stellte seine erste Regierungserklärung 1974 unter das Motto "Kontinuität und Konzentration". Es sind die zwei Begriffe, die nicht nur dem damaligen Kanzler der Krise Orientierung geben sollten, sondern die auch heute Leitmotiv für das Handeln in Europa sein müssten.

Zugegeben, schon Schmidts Regierungszeit wurde, je länger, je mehr, von Ereignissen bestimmt, die er nicht vorhersehen konnte: von der Ölkrise und dem Terror der RAF zum Beispiel. Und das machte es schwierig, Kontinuität zu wahren. Vielmehr galt es, die Kräfte auf die Bewältigung dieser Herausforderungen zu konzentrieren.

Auch jetzt, unter der Krisenkanzlerin Angela Merkel, kann von Kontinuität kaum die Rede sein, denn auf die Bankenkrise folgte die Eurokrise, die Ukrainekrise, dann das Flüchtlingsthema und jetzt - in einem viel umfassenderen Sinne als bei Schmidt - die Herausforderung des Terrorismus. Die notwendige Konzentration auf diese Themen findet nur äußerlich statt: Hektik, Aktionspläne, Gipfeltreffen in Serie. Das ist einerseits - etwa direkt nach den Terroranschlägen von Paris - unvermeidbar, andererseits aber viel zu planlos, viel zu sehr vom Moment getragen. Wenn man so will, zeigt insbesondere das Flüchtlingsthema, dass Europa es eigentlich mit einer Europakrise zu tun hat. Die Idee eines geeinten Europa ist durch das Europa der 28 an ihre Grenzen gestoßen, wenn nicht gar bereits daran gescheitert. Man muss nur an zwei zentrale Begriffe der Europapolitik der vergangenen Jahre erinnern, um das klarzumachen. Sie lauten: Schengen und Dublin. Die Bedingung für den Entfall der Kontrollen an den Binnengrenzen des Schengen-Raumes war die effektive Kontrolle an den Außengrenze der EU. Sie funktioniert nicht - was zu einem großen Teil Kontroversen wie die zwischen CSU und CDU in der Flüchtlingspolitik erklärt. Gleiches gilt für das Dublin-Abkommen. Das Land, in dem ein Flüchtling zuerst registriert wird, ist zuständig für sein Anerkennungsverfahren. Beschlossen, verkündet, aber nicht praktiziert.

Die Beispiele ließen sich mehren: Die EU beschließt einen Verteilungsschlüssel für 160 000 Flüchtlinge (was angesichts der Gesamtzahl ohnehin ein Witz ist). Aber selbst diese Mini-Herausforderung wird nicht gemeistert. Zum Beispiel, weil sich ganze Staatengruppen innerhalb der EU weigern, bei der Flüchtlingsthematik mitzuarbeiten. Der Befund ist also doppelt schlecht. Die EU funktioniert in der Krise nicht, weil Beschlossenes nicht umgesetzt wird. Und sie funktioniert nicht, weil sie keine innere Einheit, keinen inneren Kompass mehr hat. Bleibt die Konzentration auf die Idee, die Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker jetzt aus der Versenkung geholt hat: die Idee des Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten. Man kann das auch eine neue Koalition der Willigen nennen.

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