Kommentar Nicht mehr glaubwürdig
Nach dem gewaltsamen Vorgehen der ägyptischen Sicherheitskräfte gegen die Anhänger des gestürzten Präsidenten Mohamed Mursi sieht die Türkei zwei Schuldige, nämlich die ägyptischen Militärs - und den Westen. Dieser habe die Generäle nach Mursis Sturz durch Schweigen ermuntert, statt eindeutig von einem Putsch zu reden, sagt Ministerpräsident Erdogan. Jetzt trage der Westen eine Mitverantwortung für den Tod von mehreren hundert Menschen.
Erdogan steht mit seiner Kritik nicht allein. Lippenbekenntnisse zur Demokratie bei klammheimlicher Unterstützung für das Militärregime in Ägypten - das hat den Westen auch über die Türkei hinaus viel Glaubwürdigkeit gekostet. Natürlich wissen auch die Türken, dass Amerikaner und Europäer ihre Emissäre nach Kairo schickten, um eine Lösung zu finden. Zudem weiß Erdogan, dass Mursis Sturz auch bei einigen muslimischen Ländern wie den reichen Golfstaaten durchaus begrüßt wurde - denn die dortigen Herrscher sehen einen Islamisten mit demokratischem Mandat nicht allzu gerne: Schließlich könnten die eigenen Untertanen auch auf den Geschmack kommen. Die Heuchelei ist nicht auf den Westen beschränkt.
Dennoch bleibt es eine Tatsache, dass sich Europäer und USA trotz ihrer Sonntagsreden über Demokratie und Rechtsstaat bis heute davor drücken, die Entmachtung des demokratisch gewählten ägyptischen Präsidenten durch das Militär klipp und klar als Putsch zu verdammen.
Deshalb muss in Ländern wie der Türkei der Verdacht aufkommen, dass der Westen die Ergebnisse demokratischer Wahlen nur dann anerkennt, wenn es ihm in den Kram passt. Siegt ein Islamist wie Mursi, können Putschisten mit Milde rechnen. Erdogan versucht sich dagegen als Verteidiger all jener in der islamischen Welt zu profilieren, die nach dem Arabischen Frühling an Demokratie, an Wahlen und an das Prinzip des friedlichen Machtwechsels geglaubt hatten, sich jetzt aber vom Westen verraten fühlen.
Hinter dieser Sicht der Dinge steht die Überzeugung, dass der Westen die Ereignisse in Ägypten in friedlichere Bahnen hätte lenken können. Schließlich gewähren die USA dem ägyptischen Militär jedes Jahr über eine Milliarde Dollar an Rüstungshilfe. Doch der Glaube an die Allmacht von Amerikanern und Europäern ist fehl am Platz: Ägypten ist kein westlicher Vasall, die Einflussmöglichkeiten westlicher Hauptstädte sind begrenzt. Ein wenig mehr Prinzipientreue und etwas weniger Verständnis für das ägyptische Militär hätte dem Westen trotzdem gut angestanden. Wie könnten USA und Europa sich jetzt noch anmaßen, anderen Ländern etwas über Demokratie und Menschenrechte erzählen zu wollen, fragt Erdogan. Das Misstrauen in der Region gegenüber dem Westen ist weiter gewachsen.